«Für Familien aus der Mittelschicht fehlen zahlbare Angebote»

von Mireille Guggenbühler 14. Januar 2023

Gabriela von Niederhäusern ist Care Managerin und Geschäftsführerin vom Haus «Sidebärg» in Muri, das Familien in Krisensituationen offensteht. Das Angebot gibt es seit einem Jahr. Sie sagt, es brauche besser vernetzte Hilfsangebote für Familien mit vorübergehenden Problemen.

Frau von Niederhäusern, im Haus Sidebärg betreuen Sie Familien, die sich in einer akuten Krise befinden. Was sind denn die häufigsten Probleme dieser Familien?

Gabriela von Niederhäusern: Wir betreuen Familien, bei denen ein oder beide Elternteile erschöpft sind, ein Elternteil akut psychisch erkrankt ist oder bei denen die Eltern mangelnde Erziehungskompetenzen aufweisen. Wir betreuen aber auch ganz junge Familien mit Eltern, die noch nicht 18 Jahre alt sind, und Alleinerziehende, die oftmals sehr belastet sind. Auch Eltern mit Kindern, die besondere Bedürfnisse haben wie beispielsweise eine Autismus-Spektrum-Störung oder ein ADHS, kommen zu uns. In der Regel nehmen wir Familien mit Kindern zwischen 0 und 5 Jahren auf, es kommen aber immer wieder auch Familien mit älteren Kindern zu uns.

Haben Krisenereignisse in Familien zugenommen?

Statistisch kann man das nicht belegen, aber wenn ich mich in meinem Berufsfeld umhöre, dann ist das so. Dass ein Elternteil, und damit oft eine ganze Familie, in eine akute Krise geraten kann, ist ein tabuisiertes Thema. Man spricht nicht gerne darüber.

Weshalb ist das so?

Ich vermute, es hat mit einer gesellschaftlichen Veränderung zu tun. Heute werden Glück und Erfolg sehr hoch gewichtet. Viele Eltern fühlen sich deshalb unter Druck: Beruflich soll es gut laufen, die Kinder müssen den Leistungsanforderungen in der Schule und in der Gesellschaft genügen und als Paar will man auch noch eine gute Beziehung haben und pflegen. Wenn es dann trotzdem zu schwierigen Momenten kommt, haben viele Eltern Schuldgefühle und fühlen sich als Versager – insbesondere dann, wenn sie sich ihre Kinder gewünscht und vielleicht noch viel unternommen haben, um Kinder zu bekommen. Familien in solchen Situationen bräuchten eigentlich Hilfe, nehmen diese aber oft nicht in Anspruch.

Was ist der Grund dafür?

Sehr oft Scham. Viele Familien versuchen, ihre Probleme selbst zu lösen, bis es nicht mehr geht. Ich bin immer wieder erstaunt, wie einsam viele Familien sind.

Einsam?

Ja, weil sie kein Umfeld haben, das sie unterstützt. Oder dann haben sie zwar ein Umfeld, pflegen dieses aber nicht. Hinzu kommt, dass wir in unserer Gesellschaft nicht so strukturiert sind, dass wir uns gegenseitig helfen könnten. Es gibt ja diesen Spruch: «Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen.» Das hat viel Wahres. Ich bin zudem überzeugt, dass mit einer frühzeitigen Intervention akute Krisen gut aufgefangen werden könnten. Leider scheitern frühzeitige Interventionen sehr oft an der Finanzierung.

Heute werden Glück und Erfolg sehr hoch gewichtet.

Warum?

Ein stationäres Setting kostet viel Geld. Leisten können sich einen solchen Aufenthalt nur Familien, bei denen beispielsweise die Sozialhilfe beziehungsweise die Gemeinde die Kosten trägt oder Familien, die sehr viel Vermögen haben. Familien aus der Mittelschicht können ein solches Angebot nicht bezahlen.Wir im Sidebärg hören von den Zuweisern deshalb oft, dass sie keine Möglichkeit hätten, uns die Familien in einem frühen Krisenstadium zuzuweisen, weil diese einen Aufenthalt nicht finanzieren könnten. Deshalb werden Betroffene oft direkt in ein Spital oder in die Psychiatrie eingewiesen, wenn sich die Krise verschärft. Diesen Aufenthalt bezahlt dann die Krankenkasse. Dies geht aber oft mit einer Trennung von den Kindern einher.

Das heisst, Familien melden sich bei Problemen aus finanziellen Gründen gar nicht erst bei Ihnen?

Sie könnten sich im Rahmen des freiwilligen Kindesschutzes an den Sozialdienst wenden, damit der Aufenthalt bezahlt wird. Aber da dann die Gefährdung des Kindes in den Fokus rückt und die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde ins Spiel kommt, meiden viele Familien diesen Weg. Aus meiner Sicht müsste man deshalb eine Verflechtung zwischen Gesundheitsinstitutionen und sozialpädagogischen Angeboten forcieren und eine schnittstellenübergreifende Zusammenarbeit fördern. Die meisten Familien sind ja in einer vorübergehenden Krise, und wenn man frühzeitig intervenieren, sie erreichen und mit der ganzen Familie als System arbeiten kann, mündet dies selten in jahrelange Probleme.

Was raten Sie Familien, die zurzeit in einer Krise stecken?

Scheuen Sie sich nicht, Hilfe zu holen! Betrachten Sie dies nicht als Versagen, sondern als Stärke. Wir alle benötigen in gewissen Lebensphasen Unterstützung. Und ich mache immer wieder die Erfahrung, dass mir Eltern sagen, sobald sie über ihre Probleme zu sprechen begonnen hätten, erzählten auch andere von ähnlichen Herausforderungen. Familien mit Problemen sind also nicht alleine.

Dieser Text erschien zuerst in der Zeitung «Berner Landbote».