Für ein Recht auf Selbstbestimmung

von Rahel Schaad 4. Oktober 2021

Am Samstagnachmittag versammelten sich in Bern über tausend Personen um für ein «freies und würdiges Leben für Geflüchtete» zu demonstrieren. Unter ihnen sind auch Adar und Yara, die mir aus ihrem Leben in einem Rückkehrzentrum erzählen.

Adar und Yara sind nicht ihre richtigen Namen. Diese wollen sie in der Öffentlichkeit lieber nicht preisgeben, sie befürchten Schwierigkeiten mit den Behörden, wenn ihre Aussagen auf sie zurückgeführt werden können. Zusammen mit ihren drei Kindern sind die beiden vor sechs Jahren aufgrund politischer Verfolgung aus dem Iran in die Schweiz geflohen. Drei Jahre lang wohnten sie in einer Wohnung in Langenthal bis der Negativentscheid des SEM (Staatssekretariat für Migration) eintraf: Die Familie soll in der Schweiz kein Asyl bekommen. Seither wurden sie mehrmals vom einen Rückkehrzentrum ins nächste verlegt, zuletzt von Gampelen nach Bözingen bei Biel. Seit kurzem befindet sich die Familie in einem neuen Verfahren. Damit erhielten sie erneut den Status «Asylsuchende».

Tägliche Unterschriftenkontrolle

Das «Zentrum» in Bözingen besteht aus mehreren Reihen von nebeneinandergereihten weissen Containern mit kleinen Fenstern. Die Küche, die die Familie mitbenützen darf, steht am anderen Ende der Anlage. «Mein Geschirr wasche ich manchmal einfach mit kaltem Wasser im Lavabo, da ich am Abend nicht mehr bis zur Küche gehen mag», sagt Yara. Das Rückkehrzentrum Biel-Bözingen steht schon seit längerem in der Kritik aufgrund seiner kritischen Umstände für seine Bewohner*innen. Das SRF hat bereits vor einem Jahr über die Situation dort berichtet. Gerade vor kurzem erhielt der Kanton Bern die Bewilligung für die weitere Nutzung des Containerlagers bis im Juli 2022. Der Bieler Stadtrat hatte den Antrag des kantonalen Amts für Bevölkerungsdienste zuerst abgelehnt, weil die Situation im Rückkehrzentrum aus «humanitärer Sicht insbesondere angesichts der betroffenen Familien mit Kindern nicht akzeptabel» sei (der Bund berichtete).

(Foto: David Fürst)

«Jeden Morgen müssen wir bis um elf Uhr unterschreiben», erzählt Adar. Wer nicht unterschreibe, gelte als nichtanwesend und erhalte für diesen Tag kein Geld. Pro Tag erhielten alle Personen sechs Franken* Nothilfe, sagt Adar. Dies müsse für alles neben der Unterkunft reichen: Essen, Kleider, Mobilität etc. Ein Ticket von Bözingen nach Biel kostet drei Franken. Damit ist das halbe Tagesbudget bereits für einen Weg aufgebraucht. Kontakt habe die Familie vor allem mit der Kirche in Biel. Diese helfe bei vielem, erzählt Yara, sie biete einmal in der Woche einen Deutschkurs an und komme dann auch für die Bahntickets auf, ausserdem gäbe es eine Tagesschule für die Kinder. Dieses Jahr wollte die Familie für eine Woche in ein kirchliches Lager mitgehen, doch der Antrag sei vom Migrationsdienst abgelehnt worden, sie mussten im Zentrum bleiben.**

Wie in einem Gefängnis

Adar und Yara würden beide gerne arbeiten, dies war aber mit negativem Asylentscheid verboten. Die Hoffnung, dass sich nun mit dem N-Ausweis und dem neuen Verfahren eine Perspektive öffnen könnte, ist gross. Das Nichts-zu-tun-haben sei sehr schwer auszuhalten, findet Adar, der im Iran dreizehn Jahre lang bei einer Recycling-Firma gearbeitet hat. Und Yara fügt hinzu: «Ich müsste nicht einmal Geld dafür kriegen. Ich würde gerne für alle kochen, putzen, irgendetwas – einfach mit Menschen sprechen.» Auch die ältere Tochter, die bereits aus der Schule ist, durfte bisher keine Lehre oder sonstige Ausbildung machen. Nur die beiden jüngeren gehen zur Schule und haben damit eine Tagesstruktur. Auch das sei nicht immer einfach mit dem Wohnen im Containerbau, so Yara: «Am Abend ist es manchmal sehr laut. Es gibt Nachbaren, die viel Alkohol trinken, das ist sehr unangenehm und die Kinder können nicht schlafen und müssen dann am Morgen früh aufstehen für die Schule.»

Bözingen sei kein Zentrum, sondern ein Lager, sagt Adar. «Für mich ist es wie in einem Gefängnis.» Einmal hat er einen Besuch in einem anderen Kanton gemacht. Da wurde er von der Polizei kontrolliert und musste eine hohe Busse bezahlen. «Sie haben meinen Ausweis angeschaut und gesagt, ich sei illegal hier.» Asylsuchende dürfen den Kanton, dem sie zugewiesen wurden, nicht verlassen.

Problematische Abschottung

In den Reden an der Demonstration erzählten andere Geflüchtete von ähnlichen Erfahrungen wie Yara und Adar. Die unwürdige Unterbringung, die Abschottung der Menschen in den Bundesasyl- und Rückkehrzentren, die Nicht-Gewährleistung von Privatsphäre, das Nothilfesystem, das Arbeitsverbot für Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus, die ungenügende psychologische, medizinische und rechtliche Begleitung für Geflüchtete – all das bedeute eine tägliche Demütigung. «Keine Rechte über sein Leben zu haben, keine Möglichkeit auf Selbstbestimmung, dies führt dazu, dass Menschen krank werden – seelisch und körperlich», so ein Redner des Migrant-Solidarity-Networks. Es könne nicht sein, dass Menschen, die ihr Zuhause aus Not und Leid verlassen mussten und oftmals traumatische Fluchterfahrungen erlebt hätten, abgeschottet in einem Lager zusammengepfercht würden, nicht arbeiten dürften und von der Umwelt völlig isoliert würden.

(Foto: David Fürst)

Zahlreiche Organisationen hatten deshalb für letzten Samstag zum Protest gegen die schweizerische Asylpolitik und deren Praxis aufgerufen, darunter 3Rosen gegen Grenzen, das Migrant-Solidarity-Network, das Solidaritätsnetz Bern, Solidarité sans frontières, #StopIsolation und viele mehr. Gefolgt sind dem Aufruf über tausend Unterstützer*innen. Nach der Besammlung auf der Schützenmatte zog der Demonstrationszug durch die Berner Innenstadt und über den Umweg Zytglogge bis zum Bundesplatz. Die Demonstrierenden forderten ein «freies und würdiges Leben für Geflüchtete» und damit eine Kehrtwende in der Schweizerischen Asylpolitik. Konkret sollen beispielsweise neu Angekommene eine Unterbringung in Wohnungen und Zugang zu professioneller psychologischer und sozialer Unterstützung sowie eine unabhängige Rechtsvertretung erhalten, das System der Nothilfe soll abgeschafft und durch den Anspruch auf Sozialhilfe ersetzt werden. Ausserdem forderten sie ein Ende der Kriminalisierung von Menschen ohne Papiere und ein Ende der Abschottungs- und Ausschaffungspolitik. Alle Forderungen können hier nachgelesen werden.

Hoffen auf einen F-Ausweis

Für Yara und Adar ging es nach der Demo zurück nach Bözingen. Nur durch die Unterstützung des StopIsolation-Netzwerks konnten sie überhaupt nach Bern reisen, um sich für ihre Rechte einzusetzen. «Wir hoffen sehr auf einen F-Ausweis», sagt Yara. Dies könnte neue Chancen auf eine bessere Unterkunft und für Arbeitsmöglichkeiten bedeuten. Sie hofft aber auch, dass sie vorerst in Biel bleiben können, damit die Kinder nicht noch ein drittes Mal Schule wechseln müssten: «Das ist nicht gut. Dieses ständige Wechseln bedeutet sehr viel Stress.»

 

* Nach offiziellen Angaben beträgt die Nothilfe für Asylsuchende 8 Franken pro Tag. Mit der ORS AG, der Betreiberin des Zentrum Bözingen konnte bisher kein Kontakt hergestellt werden, weshalb diese Information weder verifiziert noch die Differenz erklärt werden konnte.

** Der genaue Grund, warum die Familie nicht in das Lager mitgehen durfte, wurde nicht klar. Ob diesbezüglich offizielle Regelungen bestehen, konnte in der Recherche nicht herausgefunden werden.

Gewisse persönliche und örtliche Angaben wurden zwecks Anonymisierung verändert.