Seit gut einem Monat sind die Taliban in Afghanistan an der Macht. Mit welchen Gefühlen verfolgst du die aktuelle Situation?
Mit Horror und überrascht davon, wie schnell es schliesslich gegangen ist. Ich verfolge nun, was diese Machtübernahme für die Frauen bedeutet und welche Frauen weiterhin eine Plattform haben werden. Ich bezweifle, dass die Diversität hoch sein wird.
Du forschst schon seit längerem zur kurdischen Bewegung in der Türkei und im Irak. Nun warst du wieder ein Jahr im Nordirak – dieses Mal allerdings nicht nur als Forscherin, sondern als Dozentin.
Genau, ich habe zuerst in Duhok, dann an der University of Kurdistan Hewlêr [UKH, Anm. d. R.] in Erbil verschiedene Kurse zu sozialen und politischen Bewegungen sowie Gender und Konflikten durchgeführt. Da ich diese Themen normalerweise in Europa unterrichte, war es eine sehr spannende Erfahrung, sie mit Studierenden im Nahen Osten zu diskutieren. Sie haben in vielen Bereichen eine ganz andere Sichtweise. Gewisse Themen kann man besser diskutieren als hier, andere bedürfen etwas mehr Fingerspitzengefühl.
Hier in der Schweiz haben wir auch oft ein simplifiziertes Bild von der Schnittstelle Frau, Kopftuch und Unterdrückung.
Welche zum Beispiel?
Meine Studierenden im Nordirak diskutieren die Kopftuchdebatte viel differenzierter und belächeln, wie vereinfacht das in Europa oft dargestellt wird. Hier in der Schweiz haben wir auch oft ein simplifiziertes Bild von der Schnittstelle Frau, Kopftuch und Unterdrückung. Umgekehrt stossen LGBTQI+ Bewegungen hier auf grosses Verständnis. Eine Mehrheit der Studierenden im Nordirak fand das Thema zwar auch interessant, einige stellten sich aber aktiv quer, so à la: Das wollen wir nicht besprechen, das gibt es in unserer Religion und Kultur nicht.
Wie bist du mit solchen konfrontativen Situationen umgegangen?
Ich erkläre dann: Es geht nicht darum, euch von etwas zu überzeugen oder umgekehrt. Es geht darum, Wissen zu generieren und sich anzueignen. In meinen Kursen zeige ich auf, wie sich die Begriffe «Religion» und «Kultur» und politische Räume und Möglichkeiten je nach lokalen, regionalen und internationalen Umständen verändern und die Frauen- oder LBGTIQ+ Bewegungen beeinflussen.
Es gibt nicht nur eine kurdische Bevölkerung im Nordirak, sondern auch im Iran, in Syrien und in der Türkei. Was unterscheidet sie und was hält sie zusammen?
Was sie zusammenhält, ist ein Verständnis des Kurdisch-Seins. Aber das bedeutet für alle etwas anderes. Für die einen ist dieses Verständnis religiös konnotiert, für die anderen ethnisch, historisch oder politisch. Aber da sie auf vier Länder verteilt und dort unterschiedlich unterdrückt oder assimiliert wurden, haben sich ihre politischen Parteien sehr unterschiedlich geformt. Deshalb gibt es jetzt mindestens vier – wenn nicht mehr – Vorstellungen, wie ein freies Kurdistan aussehen könnte.
Wie sehen diese Vorstellungen aus?
Im Irak zielen sie auf einen unabhängigen kurdischen Staat hin, wohingegen die PKK, die Arbeiterpartei Kurdistans, in der Türkei und in Rojava in Syrien viel eher eine «Demokratische Konföderation» möchte, die auch innerhalb eines Staates existieren könnte. Sie sind sich überhaupt nicht einig und bekriegen sich auch untereinander. So arbeitet zum Beispiel die nordirakische Regierung mit den Türken zusammen, die dann gegen die PKK in den Bergen kämpfen. Es ist eine riesige und sehr komplexe «conflict landscape».
Gibt es keine übergreifende kurdische Organisation?
Der KNK, Kurdische Nationalkongress, ist eine Initiative der PKK, die darauf abzielt, dass kurdische Parteien aus allen vier Ländern miteinander sprechen und die diplomatischen Kanäle offen bleiben. Ansonsten war die Demokratische Partei Kurdistans im Nordirak lange eine wichtige regionale Kraft, sie hat immer noch Ableger im Iran, der Türkei und Syrien.
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Im Irak haben die Kurden und Kurdinnen relativ viel Autonomie?
Der Nordirak ist eine autonome Region, sie ist jedoch weiterhin Teil des Iraks. Im Jahr 2017 kam es zu einem Unabhängigkeitsreferendum, das die grosse Mehrheit der Kurden und Kurdinnen angenommen hat. Es konnte aufgrund fehlender Unterstützung aber nicht umgesetzt werden. Stattdessen haben sie weitere Gebiete an den Irak verloren und stehen noch in einem anhaltenden Budgetstreit mit Bagdad. Diese Teilung des Iraks wurde auch während den Protesten vor zwei Jahren ersichtlich. Aus dem Norden sind zwar einige Demonstranten in den Süden gereist, aber im Nordirak selber blieb es relativ ruhig, da Demonstrationen dort grossmehrheitlich verboten sind und ziemlich schnell hart durchgegriffen wird. Zwar wird in bestimmten Bereichen Opposition auch willkommen geheissen und ermöglicht. Bei anderen Themen hingegen kommt gleich der Deckel drauf.
Wie frei konntest du an der Universität Kurse veranstalten und dich als Forscherin bewegen?
Unterschiedlich. An der einen Uni musste ich sehr vorsichtig sein. Da wurde ich auch einmal verwarnt, weil ich im Unterricht gewisse «heikle» Themen angesprochen hatte. Danach habe ich an die UKH gewechselt, an der ich dann sehr frei war. Ich habe aber trotzdem zuerst abgeklärt, über was ich sprechen darf. Als Forscherin konnte ich mich relativ frei bewegen. Man muss einfach vorsichtig sein, es gibt einige rote Linien, wie beispielsweise die Korruption der Machthabenden, oder die kurdische Freiheitsbewegung, die PKK. In der Türkei wurde ich
während meiner PhD-Feldforschungen deportiert. Ich habe gelernt, dass es sich langfristig für den Zugang zum «Feld» lohnt, wenn man sich nicht als allzu «militant» oder «radikal» positioniert.
Du hast im August ein Buch mit dem Titel «The Kurdish Women’s Freedom Movement: Gender, Body Politics and Militant Femininities» herausgegeben – das Resultat jahrelanger Forschung. Was ist unter dieser Frauenbewegung zu verstehen und wie ist sie entstanden?
Die kurdische Frauenbewegung hat sich als Teil der Kurdischen Befreiungsbewegung PKK entwickelt, ich würde sie jedoch heute als treibende Kraft hinter der gesamten Bewegung bezeichnen. Die PKK wurde Ende der 70er Jahre in der Türkei gegründet. Auch wenn es anfangs nur wenige waren, Frauen waren von Anfang an in ihren Rängen dabei. Dann hat sich zunehmend die ideologische Haltung durchgesetzt, dass die Frauen befreit werden müssen, wenn Kurdistan befreit werden soll. Ausserdem sind mit zunehmender Unterdrückung durch den türkischen Staat mehr und mehr Frauen der PKK beigetreten und haben in den 90ern angefangen, eigene politische und militärische Strukturen zu bilden. Mittlerweile sind diese Strukturen der Frauen sehr wirkungskräftig. Einerseits, weil sie sich sowohl in den politischen als auch in den militärischen Kämpfen behauptet haben. Andererseits, weil sie die Unterstützung Abdullah Öcalans haben, des Gründers und Führers der Partei.
Nur weil eine Frau an der Macht ist, ist ja nicht alles gezwungenermassen besser.
Innerhalb der Bewegung gibt es einerseits politische Organisationen, andererseits werden in den Bergen, in sogenannten Guerilla-Camps, Frauen und Männer militärisch ausgebildet. Wie sind diese Bereiche – Politik und Militär – miteinander verbunden?
Die Grenzen zwischen diesen Bereichen sind fliessend. Es kann sein, dass jemand, der lange in der Politik aktiv war und dort viel Staatsgewalt und Repression erfahren hat, deshalb in die Berge geht und den Guerillas beitritt. Oder dass ehemalige Guerillas, die vom türkischen Militär gefangen genommen wurden und nach zehn, fünfzehn Jahren aus dem Gefängnis rauskommen, in die politischen Strukturen gehen.
Kann man Unterschiede zwischen der Organisationsweise der Frauen und derjenigen der Männer feststellen?
Die Bewegung hat ganz klare Vorstellungen davon, inwiefern Frauen mit Macht anders umgehen. Sie sagen, wenn Frauen an der Macht sind, werde Macht demokratischer und breiter verteilt. Unter anderem deshalb haben sie die Doppelspitze eingeführt: Jeder Vorsitz wird sowohl von einer Frau als auch einem Mann geteilt. Ob Macht deswegen wirklich anders funktioniert, ist ein komplexes philosophisches Thema. Nur weil eine Frau an der Macht ist, ist ja nicht alles gezwungenermassen besser. Aber es werden sicher andere Themen besprochen und Frauen fühlen sich viel stärker ermutigt, aktiv zu sein und Repräsentantinnen in den jeweiligen Komitees auch aufzusuchen.
Hat die Frauenbewegung auch eigene Ziele oder sind ihre Ziele deckungsgleich mit denen der grösseren Freiheitsbewegung?
Die Frauenbewegung hat eine klare Befreiungsideologie, die jedoch mit derjenigen der gesamten Bewegung verwoben ist. Die kurdische Bewegung verfolgt ein globales Ziel, nämlich den Kampf gegen das Patriarchat, den Kapitalismus und den Nationalstaat. Öcalan fordert: Staaten müssen obsolet werden, stattdessen müssen radikale demokratische Strukturen aufgebaut werden. Und weil die Frauen am meisten unterdrückt sind, müssen sie sich am meisten emanzipieren und stellen die treibende Kraft hinter diesen neuen Strukturen dar. Die Bewegung verspricht nicht nur die Freiheit der kurdischen Frau, sondern die aller Frauen, da diese Unterdrückungsmechanismen auch global agieren. Innerhalb der Bewegung müssen sich die Frauen aber trotz der zentralen Rolle, die ihnen von Öcalan zugeschrieben wird, auch immer wieder gegen ihre männlichen Parteigenossen durchsetzen. Klar ist, dass sie in diesem Kampf sehr viel zu gewinnen, aber auch sehr viel zu verlieren haben.
Kann man sich unter «Gleichstellung» dasselbe vorstellen, wie wir hier darunter verstehen?
In der Theorie ja. Im Zentrum steht eine Emanzipierung aus den häuslichen Strukturen. Öcalan sagt, die erste Form der Sklaverei sei das Hausfrauentum. Die Frauen müssen weg vom Herd, in die Öffentlichkeit heraus, wo sie sich einbringen und ihre Ideen entwickeln können. Es geht also sowohl um eine politische als auch um eine geistige und körperliche Emanzipation.
Und in der Praxis?
In der Praxis emanzipiert man sich innerhalb dieser Parteistrukturen, in denen aber auch wieder relativ klar vorgegeben ist, wie du dich als Frau verhalten musst, wie du dich anziehst, dich benimmst. In meinem Buch bezeichne ich das als «militant femininities». Wenn Frauen in die Berge gehen, kommen sie in eine militärische Struktur hinein, in der sie als Freiheitskämpferinnen trainiert werden. Dort gelten – wie in jeder Armee – bestimmte Regeln. Diese «militante» Identität ist sehr klar umrissen. Du musst die Fesseln der Gesellschaft – Kleinbürgertum, Egoismus, Individualismus – abwerfen und zu einem gemeinschaftlichen Individuum werden, das für eine grössere Befreiung kämpft.
Als Frau ist man also sehr stark an eine Ideologie und Partei gebunden: Was heisst das nun für die Frau?
Wie emanzipiert ist sie tatsächlich? Das ist eine grosse, schwierige Frage, die mich lange beschäftigt hat. Freiheit ja, aber zu welchem Preis? Emanzipation ja, aber wie? Oder wie weit? Das ist eine Frage, die auch nicht abschliessend beantwortet werden kann. Ich zeige in meinem Buch auf, dass der Beitritt in die Partei und das Erlernen der «militanten Persönlichkeit» für jede Frau auch ein individueller Prozess ist und es allen meinen Interviewpartnerinnen bewusst war, dass es noch einiges zu tun gibt, sowohl in Bezug auf die Frauenbefreiung, als auch innerhalb der Gesellschaft generell.
Aus welchen Gründen treten die Frauen den Guerillas bei?
Teilweise kommen sie aus sehr strikten patriarchalen, konservativen Strukturen, in denen sie zum Beispiel zwangsverheiratet wurden oder andere Formen von Gewalt erfahren haben und dann das Leben innerhalb der Partei als befreiend empfinden. Dann gibt es diejenigen, die das zwar nicht als befreiend empfinden, aber aus politischer Überzeugung die Regeln befolgen. Und dann gibt es wieder andere, die mit grossen Idealen beitreten, im Laufe der Zeit desillusioniert werden und schliesslich wieder austreten. Es gibt nicht eine Motivation, nicht das eine Erleben, nicht ein Resultat. Deshalb antworte ich auf die Frage der Emanzipierung lieber mit einem «yes, but» oder «and/or» als einfach «schwarz/weiss», «frei/unfrei».
In den Guerilla-Camps wird sowohl von Frauen als auch von Männern strikte sexuelle Abstinenz verlangt. Wie gehen die Frauen, die du getroffen hast, damit um?
Das ist kein einfaches Gesprächsthema. Nicht nur innerhalb der Bewegung – in jeder Gesellschaft. Von den Frauen in der Bewegung hörst du oft nur dasselbe Narrativ, was auf die Dauer sehr frustrierend ist. Auf die Frage nach der Sexualität antworten sie, dass es ein notwendiges Opfer sei, das man erbringt, um den grösseren, wichtigeren Kampf für die Freiheit Kurdistans und die Freiheit der Frauen zu führen. Eine meiner Interviewpartnerinnen, mit der ich über Sexualität gesprochen habe, hat mir gesagt: «Wir wissen, dass wir uns mehr damit befassen müssen, aber wir sind im Krieg, da gibt es einfach wichtigere Dinge». Jedes Militär hat einen Kodex, was in Bezug auf intime Beziehungen erlaubt ist und was nicht, die PKK ist da nicht einzigartig. Einzigartig ist, dass sie in den militärischen Strukturen Sexualität ganz verboten hat. Interessant war für mich zu untersuchen, wie die «body politics» der Partei und die Ideologie rund um die Frauenbefreiung zusammenspielen.
Einzigartig ist, dass die PKK in den militärischen Strukturen Sexualität ganz verboten hat.
Du hast aber auch mit Frauen gesprochen, die aus der Partei ausgetreten sind. Einige davon leben mittlerweile in der Schweiz. Was haben sie erzählt?
Erst einmal: Dass es trotz dem strikten Verbot immer wieder zu Liebesbeziehungen oder sexuellen Beziehungen kommt. Diese werden dann aber je nach Situation ziemlich hart bestraft. Die Kontrolle der eigenen Sexualität ist auch Teil einer Selbstkontrolle, die du in der Ausbildung lernst und brauchst, um das harte Leben in den Bergen zu überleben und deine Bedürfnisse und deinen Körper kontrollieren zu können. Viele, die ausgetreten sind, haben mir erzählt, dass sie Jahre gebraucht haben, bis sie sich mit ihrem Körper wieder anfreunden und Sexualität leben konnten. Eine hat es folgendermassen beschrieben: «Du wirst kalt, du wirst abgestumpft».
Einige Aspekte der Frauenbewegung erinnern an westliche feministische Theorien. Fühlen sie sich diesen verbunden?
Lange haben sie sich stark abgegrenzt und den westlichen Feminismus zwar als wichtig, aber mangelhaft bezeichnet. Ihr Vorwurf war, dass der liberale weisse Feminismus immer nur an der Fassade gekratzt habe, anstatt das ganze System zu verändern. Ihre eigene Bewegung nennen sie nicht Feminismus, sondern haben sie – zumindest für eine lange Zeit – Frauenbefreiung genannt. Ende der 2000er Jahre ist dann ein neues Konzept gekommen: Jineolojî.
Was hat es damit auf sich?
Auf Deutsch würde ich das als «Frauenwissenschaften» übersetzen. Die Idee dahinter ist, dass Männer über Jahrtausende diejenigen waren, die die Wissenschaften dominiert haben, und dass das enorme Wissen der Frauen nun endlich auch eingebracht werden muss. Weiter soll die Wissenschaft nicht in rigide einzelne Disziplinen unterteilt werden, sondern ganzheitlicher angegangen werden. Diese neue Frauenwissenschaft soll dann das Wissen generieren, das die neuen Gesellschaftsstrukturen des demokratischen Föderalismus untermauert. Kürzlich habe ich mit meiner Kollegin und Freundin Nadje Al-Ali einen Artikel publiziert, in dem wir Jineolojî kritisch aus verschiedenen feministischen Standpunkten angeschaut haben. Der Einbezug von weiblichen Perspektiven findet natürlich schon lange innerhalb der feministischen, post-kolonialen Wissenschaften und speziell in den Gender Studies statt.
Inwiefern ist es möglich, aus der Perspektive einer westlichen Forscherin Kritik zu formulieren?
Das ist sehr schwierig. Viele von uns haben Anflüge vom «Imposter Syndrome» und denken: «Wer bin ich, darüber überhaupt etwas zu sagen, wenn andere ihr Leben für diesen Kampf geben?». Gleichzeitig ist es nicht unser Job als Akademikerinnen, Kritik an einer Bewegung zu üben. Viel eher geht es darum, nuancierte Untersuchungen anzustellen, die hoffentlich weiter gehen als die Dichotomien neu/alt, richtig/falsch, revolutionär/liberal. Trotzdem: Nachdem du dich jahrelang mit einer Sache befasst hast, kannst du als Akademikerin auch kritische Fragen stellen. Je nach Formulierung wird das von «der Bewegung» mehr oder weniger goutiert.
Du beginnst nun ein neues kollaboratives Forschungsprojekt. Es soll um Arbeiten von nordirakischen Aktivist*innen und Künstler*innen gehen, die gender-basierte und sexuelle Gewalt, religiösen Konservatismus und das alltägliche Leben nach ISIS thematisieren.
Die Forschenden, mit denen ich an diesem Projekt arbeite, haben alle lange zu bewaffneten, politischen Bewegungen geforscht. Wir alle haben erkannt, dass politische Parteien viel Veränderung bringen und der bewaffnete Kampf zum Teil notwendig ist. Aber wir glauben, dass wirkliche, tiefgreifende Veränderungen von der Zivilgesellschaft initiiert werden. Uns interessiert, welche Bereiche von Aktivismus bereits existieren und wie diese Bereiche neue gesellschaftliche Räume fordern, formen und füllen.
Welchen Platz hat dieser künstlerische Aktivismus in der irakischen Gesellschaft?
Überall im Nahen Osten gibt es eine reiche Kunsttradition, auch im Nordirak – speziell in Sulaymaniyah, einer Stadt an der iranischen Grenze. Dort sind sie sehr stolz auf ihr künstlerisches Erbe und dieses wird auch gepflegt. Es gibt viele Museen und es werden immer wieder neue Räume für den kritischen Austausch geschaffen. Inwiefern diese Räume existieren, kommt natürlich immer auch auf die Stadt und die politische Situation an.
Keine*r meiner kurdischen Studierenden belegt Europastudien und wird dann Europa-Expert*in.
Im Gespräch mit dir wird uns klar, wie festgefahren unser westlicher Blick auf diese Region ist und wie wenig wir über das gesellschaftliche und kulturelle Leben wissen. Für uns ist der Irak ein einziges Krisengebiet.
Dieses Gefühl haben wahrscheinlich viele Leute. Die kurdischen Gebiete im Nordirak sind verglichen mit anderen Gebieten jedoch sehr stabil. In Bezug auf Bildung, Entwicklung und künstlerisches Schaffen ist da vieles möglich. Aber auch während der Proteste in Bagdad 2019 ist dort plötzlich ganz viel an Kreativität aufgebrochen: Es gab Pop-up-Kinos, Pop-up-Sportstrände, ganz viel Kunst, ganz viel Graffiti… Man forderte nicht nur eine neue politische Kultur, sondern auch, dass die Kunstschaffenden und die Jugend einen Platz darin haben.
Welche eigenen Bilder über den Irak musstest du während deiner elfjährigen Auseinandersetzung mit dem Land revidieren?
Nach längerer Zeit entwickelst du eine Sensibilität dafür, wie ähnlich schliesslich alles ist. Die Kämpfe, die unsere Grossmütter und Mütter hier in der Schweiz geführt haben, gleichen in vielen Aspekten denen, die nun dort geführt werden. Es ist wichtig, von dieser Vorstellung wegzukommen, dass die Frauen im Nahen Osten speziell unterdrückt sind, dass die Religion speziell strikt ist, dass die Männer speziell barbarisch sind. Aber es gibt natürlich sehr starke patriarchalische Strukturen, die weiter existieren und auf verschiedene lokale, regionale und internationale Faktoren zurückzuführen sind. Dieses Zusammenspiel zu analysieren, ist interessant!
Würdest du dir wünschen, dass sich der westliche, stereotypische Blick auf den Nahen Osten endlich ändert?
Unser Blick auf den Nahen Osten wurde schon immer durch orientalistische Darstellungen in Film, Kunst und Politik geformt. Das kritisch zu hinterfragen, ist ganz wichtig. Glücklicherweise gibt es immer mehr Kunstschaffende, Aktivist*innen und Akademiker*innen aus der Region, die ein anderes, komplexeres Wissen generieren. Aber es ist auch nicht alles falsch, was wir zum Nahen Osten wissen. Es ist einfach viel komplexer, als wir uns das jemals vorstellen können. Ich bin immer wieder überrascht, wie viel ich konstant dazu lerne, wie viel ich noch nicht weiss. Es ist auch absurd zu denken, man könnte Nahost-Expert*in werden. Keine*r meiner kurdischen Studierenden belegt Europastudien, wird dann Europa-Expert*in und kann sowohl etwas zum Appenzeller Stimmrecht als auch zu den Suffragetten sagen.
Das Interview wurde von Noémie Jäger und Janine Schneider geführt. Es erschien erstmals in der Nr. 25 der bärner studizytig.