Fotografie kann gar nicht nicht dazugehören

von Bernhard Giger 22. September 2017

Gestern Abend wurde im Kornhausforum die Ausstellung «Swiss Press Photo 17» eröffnet. Als Leiter des Hauses und als Präsident der Jury von Swiss Press Photo hat Bernhard Giger die Ausstellung mit einer Rede eröffnet. Hier ist sie.

Liebe Pressefotografinnen und Pressefotografen,
liebe Anwesende

77 Jahre alt ist Werner Nicolet geworden. In Bern war er stadtbekannt, obwohl nur wenige seinen Namen wussten. «Fifty» wurde er genannt, der Bettler, der vor allem in der Oberstadt, oft unten an der Rolltreppe zur Bahnhofunterführung, anzutreffen war. In Frauenkleidern und Stöckelschuhen, in denen zu gehen ihm eher schwerfiel und wenig elegant war, mit Kinderwagen und Puppe – und, unverkennbar, stets strickend. «Fifty» lebte die meiste Zeit auf der Gasse, und er war drogenabhängig. 2014 war er in das Alters- und Pflegeheim Solina in Spiez gekommen. Dort hatte er es friedlich, konnte im Rollstuhl sitzen und rauchen und bekam Methadon. Zweieinhalb Jahre lebte er so, im Februar dieses Jahres ist er gestorben.

Der in Biel lebende Fotograf Rolf Neeser hat «Fifty» in Spiez fotografiert. Seine im Januar 2016 entstandene Reportage handelt von Drogenabhängigen, die wie «Fifty» auf der Strasse waren, ständig im Stress, um sich ihren Stoff zu beschaffen, von den Passanten zumeist geächtet und nie sicher vor polizeilichem Eingriff, und die es doch geschafft haben, irgendwie und vielleicht fast wie durch ein Wunder zu überleben. Und nun endlich, im Heim in Spiez, keinen Stress mehr haben.

«Die Kinder des Needle-Parks kommen ins Rentenalter. Dass das möglich ist, hat auch mit der Schweizer Drogenpolitik zu tun.»

Bernhard Giger

Die Kinder des Needle-Parks kommen ins Rentenalter. Dass das möglich ist, hat auch damit zu tun, dass die Überlebenshilfe zu den tragenden Säulen der Schweizer Drogenpolitik gehört. Rolf Neesers Reportage, Gewinner in der Kategorie Alltag von Swiss Press Photo 17, ist eine Geschichte aus der Mitte unseres Landes, politisch, für viele aber ebenso verbunden mit privaten Erfahrungen im Familien- oder Freundeskreis. Alltag, auch wenn das, was die Bilder zeigen, vielleicht zunächst irritiert. Die Bilder stehen am anderen Ende einer Entwicklung, die in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern begonnen hat. Platzspitz, Letten, Kocherpark – die Namen der offenen Drogenszenen in Schweizer Städten waren in aller Mund. Im Rückblick auf 25 Jahre Swiss Press Photo ist ein schwarz-weisses Bild zu sehen, das Tom Kawara 1994 auf dem Letten gemacht hat. Pures Elend. Eine erbärmliche, dem Verfall geweihte Szenerie. Die friedlichen Kiffer im Altersheim in Spiez sind dazu berührendes Gegenbild.

Der Bildjournalismus zeichnet sich einerseits aus durch unbedingte Aktualität und andererseits durch ein untrügliches Gedächtnis. Dafür stehen die Bilder vom Zürcher Letten und ein Vierteljahrhundert später vom Pflegeheim im Berner Oberland. Die Bilder vom Letten und anderen Drogenszenen – oder vom Aidspfarrer am Spitalbett von Koni Nordmann, einer weiteren Arbeit im Rückblick – haben massgebend zum öffentlichen Bewusstseinsprozess im Umgang mit Drogen und Sucht beigetragen. Sie waren – aufgenommen vor unserer Haustür – zu erschreckend, um sie zu verdrängen. Und heute, wo Rolf Neeser von zufriedenen, alten Kiffern erzählt, die so viel Schlechtes durchgemacht haben, zeigen uns die Pressebilder von der offenen Drogenszene – untrüglich eben – was für ein tiefer Wandel sich in der Zwischenzeit in Drogenfragen gesellschaftlich vollzogen hat.

Bildjournalismus ist immer auch eine Art Beweisführung – oder, direkter: Geschichtsschreibung. Logisch, wir wissen alle, dass auch die Pressefotografie gelegentlich lügt, aber im Grossen und Ganzen ist die Fotografie, neben dem Wort, die weiterhin verlässlichste Quelle in der Berichterstattung über die Wirklichkeit. Daran ändert nichts, dass ihre Technik und ihre Vermittlung heute gänzlich anders sind als noch Ende des letzten Jahrhunderts, im Gegenteil: Gerade Online muss eine Fotografie ganz speziell Authentizität und Nähe zum Ereignis vermitteln, wenn sie gesehen und nicht bloss überscrollt werden will.

«Gerade Online muss eine Fotografie ganz speziell Authentizität und Nähe zum Ereignis vermitteln, wenn sie gesehen und nicht bloss überscrollt werden will.»

Bernhard Giger

Alltagssachen wie in Spiez, davon lebt Swiss Press Photo. Keine ganz grossen Sachen halt, doch wer will das schon beurteilen können, was wirklich einzigartig ist und atemberaubend. Das ist oft eine Frage des Standpunkts. Atemberaubend, warum nicht, ist zum Beispiel ein Kuhtransport auf einer Barke über den Zürichsee, Stephan Rappo hat ihn aufgenommen und damit in der Kategorie Schweizer Reportagen gewonnen. Und atemberaubend, wenn wir schon draussen in der Natur sind, ist auch der zugefrorene Bergsee im Appenzell, den Urs Bucher fotografiert hat, und in dem man angeblich durchs Eis bis auf den Grund schauen kann. Atemberaubend, diesmal wörtlich, ist schliesslich die Schlammschlacht von Spielerinnen eines internationalen Rugby-Turniers in St. Gallen, die auch Urs Bucher aufgenommen hat – und damit in der Kategorie Sport als Gewinner ausgezeichnet wurde.

Es gibt andere Geschichten, auch sie nicht laut und grell, aber vielleicht ein wenig unheimlich oder doch zumindest nachdenklich stimmend. Ein junges Paar sitzt in Savognin auf einer Aussichtsbank, durch den Hang gegenüber zieht einsam eine Kunstschneepiste. Gian Ehrenzeller hat hingeschaut. Seine Aufnahme ist wie eine Postkarte, mit dem entscheidenden Unterschied, dass eine von der gleichen Position aus angefertigte Postkartenaufnahme früher ganz selbstverständlich eine tief verschneite Landschaft präsentiert hätte. Oder: In weissen Schutzanzügen durchsuchen Spezialisten am Gotthardpass nach dem Absturz eines Militärhelikopters das Gelände. Man glaubt Ausserirdische beim Inspizieren der Schweizer Alpen zu beobachten. Samuel Golay hat sie gesehen. Im Siegerbild Aktualität, das Anthony Anex im Berner Dählhölzli gemacht hat, stehen Flamingos in einem Glashaus zusammen, als ob sie sich dort verabredet hätten. Aber sie wurden unter Quarantäne gesetzt als Schutz vor der Vogelgrippe. Nicht gerade unheimlich, aber kalt und stürmisch ist es in der Schweiz, durch die Mark Henley den CVP-Präsidenten Gerhard Pfister begleitet – Henley gewann damit in der Kategorie Porträt.

Laut und tagelang auf allen Kanälen war die gewaltsame Räumung des Flüchtlingscamps Dschungel in Calais im Oktober 2016. Das Zynische daran: So brutal die Szenen, so alltäglich die Situation. Die Bilder der durch Europa getriebenen Flüchtlinge sind unterdessen geradezu grausam alltäglich geworden. Aber das kann ja kein Grund sein, nicht mehr zu fotografieren. Zalmaï Ahad, Swiss Photographer of the Year und Gewinner in der Kategorie Ausland, 1963 in Kabul geboren und mit 17 aus Afghanistan geflüchtet und in die Schweiz, nach Lausanne gekommen, kann nachvollziehen, was diese Menschen bewegt, welches Elend und welche Gewalt sie zur Flucht gezwungen haben. Er ist nicht nur als Reporter unterwegs, dessen Bilder international publiziert werden, er ist immer auch unterwegs durch seine eigene Geschichte.

«Die Bilder der durch Europa getriebenen Flüchtlinge sind unterdessen geradezu grausam alltäglich geworden. Aber das kann ja kein Grund sein, nicht mehr zu fotografieren.»

Bernhard Giger

Zalmaï sagt: «Wenn ich mich in einem Camp wie jenem von Calais befinde, habe ich das Gefühl, mich selber zu sehen.» Wer so hinschaut, schaut anders. Eine Aufnahme zeigt, wie eine Gruppe von Campbewohnern zum letzten Erinnerungsbild zusammensteht. Die Szene hat etwas Undramatisches an sich, obwohl der Himmel darüber pechschwarz ist. Zalmaï ist dieser leise, intime Moment nicht entgangen – und er verleiht ihm durch seine fast liebesvolle Anteilnahme viel Würde.

Von Zalmaï’s Fotografien aus Calais reicht der Bogen der Ausstellung zurück bis in die Anfänge von Swiss Press Photo in den frühen Neunzigerjahren. Flucht und Asylsuche sind die bestimmenden Themen seit Beginn. Das Bild einer kurdischen Flüchtlingsfamilie im Hungerstreik, die sich in Flüeli Ranft gegen ihre Ausschaffung wehrt, 1991 von Peter Fischli aufgenommen, war das erste Siegerbild von Swiss Press Photo. Flucht und Vertreibung, Asyl und Ungewissheit, Entwurzelung und Neuanfang: kein anderes Themenfeld zeigt so offensichtlich, wie grenzüberschreitend die Arbeit der Schweizer Bildjournalistinnen und Bildjournalisten längst ist. Die Schweiz ist keine Insel, wie uns das eine gewisse politische Meinung weismachen will, sie ist so etwas von vernetzt und verbandelt mit der Welt, dass sie gar nicht nicht dazu gehören kann. Die Pressefotografie liefert dazu täglich und umfassend Anschauungsunterricht.

Andere Themen des Medienpreises sind im Lauf der Jahre sporadisch aufgeschienen, Stürme wie Lothar, Berge, die plötzlich rutschen und Bäche, die plötzlich reissen. Es gab die Ereignisse, die sich schauderhaft einbrannten: Das Attentat von Zug, vierzehn erschossene Politikerinnen und Politiker, keine drei Wochen nach 9/11. Es gab Ereignisse, die bis heute beschämend sind: Die Schweizer Nazis, die auf dem Rütli die Augustfeier stören. Und es gab Ereignisse, die einfach hängenbleiben sind, vielleicht, weil man dachte, sie seien historisch: Die Abwahl von Bundesrat Blocher oder die letzte verspielte Chance der Schweizer Fussball-Nationalmannschaft an der WM vor drei Jahren in Brasilien. Und dann gibt es, im aktuellen Überblick dieses Jahres, leise und elegant und eine Spur märchenhaft, sogar eine von Jean Revillard fotografierte Erdumrundung mit Bertrand Piccards Solarflugzeug. Das ist dann schon fast wie in einem Roman von Jules Verne. Wem das zu abgehoben ist: auch das Eidgenössische Schwingfest ist unter den diesjährigen Preisträgern zu finden.