Forschung für ein Stück Lebensqualität

von Kim Pittet 29. Februar 2024

Medizin Seltene Krankheiten und ihre Therapien sind in der Schweiz noch kaum erforscht. Daran erinnert der heutige Rare Disease Day.

Wie eine Influencerin dreht die elfjährige Lya Videos für ihren TikTok-Account. Dabei erklärt sie ihren Followern, wie der Lidschatten aufgetragen und wo das Wangenrouge platziert wird. Offline widmet sie sich den Lego Friends. Mal nimmt sie dazu die Shopping Mall, mal in eine kleine Massage-Boutique im Kleinformat hervor, die Bestandteil des Sets der Lego Friends sind.

Mit im Spiel ist immer auch die Legofigur im Rollstuhl, denn Lya ist selber auf den Rollstuhl angewiesen. Dass diese Legofigur wie alle anderen zur Sammlung der unterschiedlichen Figuren dazu gehört, ist für sie normal, weil sie es selbst so kennt. «Uns war von Beginn an wichtig, dass Lya Teil der Gesellschaft wird – durch den Besuch der Regelschule sowie des Kindertanzens», sagt Mutter Yen Tu Leonardo aus Bern.

Der Rollstuhl soll dabei kein Hindernis sein. Auf ihn angewiesen ist Lya aufgrund einer genetischen Erkrankung namens Spinaler Muskelatrophie (SMA). Die Behinderung entsteht durch einen Mangel eines Proteins, was zum Verlust von motorischen Nervenzellen und somit zu Muskelschwäche und Muskelschwund führt. Um die Sensibilisierung für solche Erkrankungen voranzutreiben, findet heute der weltweite Rare Disease Day, der Tag der seltenen Krankheiten, statt. Denn SMA ist laut dem Verein Pro Raris eine von geschätzt 6’000 bis 8’000 seltenen Krankheiten.

Die Forschung steckt in Kinderschuhen

Der im Jahr 2008 ins Leben gerufene Rare Disease Day soll dazu dienen, die Öffentlichkeit und die Politik auf ein kaum bekanntes gesundheitspolitisches Anliegen aufmerksam zu machen. Denn obwohl Statistiken des Bundesamtes für Gesundheit belegen, dass in der Schweiz rund 500’000 Menschen von seltenen Krankheiten betroffen sind, gibt es für die meisten davon noch keine entsprechenden Behandlungsmöglichkeiten.

Vielfalt und die seltenen Fälle innerhalb der jeweiligen Krankheit erschweren eine gezielte Forschung.

Die Herausforderung: Viele seltene Krankheiten haben zwar genetische Ursachen und sind von sensorischen, motorischen oder kognitiven Behinderungen geprägt, ihre Vielfalt und die seltenen Fälle innerhalb der jeweiligen Krankheit erschweren jedoch eine gezielte Forschung. Doch gerade die Erforschung dieser seltenen Krankheiten könnte dazu beitragen, auch häufigere Erkrankungen detaillierter zu verstehen und deren Therapie zu verbessern. Denn oft betreffen die seltenen Krankheiten grundlegende biologische Prozesse.

Das fehlende Wissen um seltene Krankheiten und ihre Therapiemöglichkeiten stellt auch Betroffene und ihre Angehörigen vor Herausforderungen. So erinnert sich Yen Tu Leonardo noch gut an die Tortur rund um die Diagnose, als sie im Jahr 2013 bei der damals neun Monate alten Lya einen Rückgang der motorischen Fähigkeiten feststellte. «Der Hausarzt verschrieb uns erst einmal eine Physiotherapie.»

Als Eltern zieht es einem in diesem Moment den Boden unter den Füssen weg.

Da auch nach drei Monaten keine Besserung in Sicht war, folgten verschiedene Untersuchungen durch Blutentnahmen, eine Lumbalpunktion und schliesslich eine Genanalyse», erzählt Tu Leonardo. Erst nach rund einem Jahr erhielt die Familie Gewissheit, dass es sich um SMA handelte. Eine Oberärztin des Insel Spitals Bern teilte ihnen mit, dass die Krankheit nicht heilbar sei und die Lebenserwartung bei zehn Jahren bis junges Erwachsenenalter läge. «Als Eltern zieht es einem in diesem Moment den Boden unter den Füssen weg. Der Schock war riesig», erinnert sich Yen Tu Leonardo.

Auf eigene Faust aktiv geworden

Das Ehepaar verlangte einen runden Tisch mit Physiotherapeuten, Kinderarzt und Oberärztin. Alle Fachpersonen seien mit der Diagnose überfordert gewesen, denn einen solchen Fall hätten sie bisher noch nie gehabt. Das Berner Ehepaar zögerte nicht lange und wurde selbst aktiv. Im Internet stiessen sie auf die Webseite ClinicalTrials, wo alle laufenden Studien zu Medikamenten aufgelistet werden.

Durch die Verwandtschaft von Lyas Vater erhielten sie Kontakt zu einem Spital in Mailand, das sich in der Rekrutierungsphase für eine Medikamenten-Studie befand. Zeitgleich lief eine ähnliche Studie in Freiburg im Breisgau an, auch für diese bewarb sich die Familie. Da Lya bei der Freiburger Studie gewisse Voraussetzungen wie die motorischen Fähigkeiten oder das Alter erfüllte, wurde sie schliesslich aufgenommen. Sie hätten sich dabei grösstenteils keine Sorgen um allfällige Nebenwirkungen gemacht, erzählt die dreifache Mutter. «Die Hoffnung, dass durch die Medikation der Verlauf der Krankheit stagnieren würde, hat die Angst überwogen.»

Mit rund drei Jahren bekam Lya erstmals Zugang zum Medikament. Bis dahin hatten sich ihre Muskeln bereits schleichend leicht abgebaut. Tu Leonardo ist überzeugt: «Lya hat aufgrund des Medikaments heute mehr motorische Funktionen in den Händen und eine stärkere Nackenmuskulatur.» Bereits der Erhalt einzelner Fähigkeiten, wie selbstständig eine Tasse hochheben zu können, bedeutet für Betroffene ein Stück Lebensqualität.

Verschiedene Pharmafirmen halten Medikamente bereit

Die Forschung rund um Medikamente gegen SMA hat in den letzten Jahren zugenommen. Die Ursache ist vermutlich ein vereinfachtes und somit kostengünstigeres Zulassungsverfahren von Swissmedic, der Schweizerischen Zulassungs- und Aufsichtsbehörde für Arzneimittel. Momentan bieten drei Pharmaunternehmen in der Schweiz eine medikamentöse Therapie für SMA-Patient*innen an.

Die Medikamente kosten mehrere hunderttausend Franken pro Jahr und Person. Auf Anfrage betont beispielsweise Mediensprecher Simon Goldsborough von Roche, dass der Ansporn zur Forschung sich aber grundsätzlich auf das Menschenleben beziehe: «Wir folgen der Wissenschaft, um Lösungen zu entwickeln, die das Leben von Patient:innen verändern können.»

Warum diskutieren wir dann um die Kosten, wenn es um Menschen mit seltenen Krankheiten geht?»

Für Yen Tu Leonardo stellt sich dabei die Frage, ob der enorme Preis für das Medikament ihrer Tochter gerechtfertigt sei. Aber sie sieht auch: «Irgendwie muss die Pharmaindustrie Geld verdienen, damit sie dieses wiederum in die weitere Forschung investieren können.» Sie wolle deshalb nicht mit dem Finger auf die Pharmafirmen zeigen.

Yen Tu Leonardo fragt sich zudem, weshalb in der Gesellschaft über die hohen Preise diskutiert wird: «Einige Krebsmedikamente sind auch sehr teuer, und trotzdem wird versucht, jedes Leben zu retten. Warum diskutieren wir dann um die Kosten, wenn es um Menschen mit seltenen Krankheiten geht?»

Ein gemeinsames Ziel erhöht das Wohlergehen

Die genaue Anzahl der Forschungsprogramme der Pharmafirmen ist nicht bekannt. Roche rekrutiert derzeit Patient*innen für eine neue Studie, in der das bereits bestehende Medikament in einer Kombination mit einem Molekül getestet wird, welches das Muskelwachstum fördert. Genau auf solche weiteren Fortschritte hofft Tu Leonardo, denn ihr ist es ein grosses Anliegen, dass die Forschung nicht bei den bisherigen Medikamenten stehen bleibt.

Für den Arzneimittelhersteller Roche ist jedoch klar: «Nur durch Partnerschaften mit anderen Unternehmen, akademischen Einrichtungen und Experten auf dem Gebiet der seltenen Krankheiten können wir für die Menschen, die mit einer seltenen Krankheit leben, etwas bewirken». Dadurch erhöhe sich auch die Lebensqualität der Betroffenen.