Frau Beyeler, wenn Sie die Ereignisse der letzten Wochen und Tage anschauen – was passiert gerade rund um die Reitschule?
Michelle Beyeler:
Es laufen zwei Prozesse ab. Das eine ist die «faulste Stadtguerilla», die mediale Aufmerksamkeit bekommt, wobei zweifelhaft ist, ob sie auch hinter den Flaschenwürfen steckt. Ihre Message wird – wie in der «Berner Zeitung» – sogar eins zu eins abgedruckt. Das ist natürlich ein grosser medialer Erfolg für die Verfasser.
Der zweite Prozess dreht sich um die Reitschule selbst. Die Flaschenwerfenden scheinen nicht Teil der Reitschule zu sein, sie halten sich jedoch in ihrem Dunstkreis auf. Die Reitschule hat ihnen gegenüber keine Weisungsbefugnis.
Warum glauben Sie, dass die Flaschenwerfer-Szene nicht zur Reitschule gehört? Sie könnte ihre Aktionen doch auch woanders machen.
Das könnten diese natürlich, und das wäre fair gegenüber der Reitschule. Die Personen aus dem eher linksradikalen Umfeld haben traditionellerweise in der Reitschule ihre Heimat. Dort werden viele politische Kampagnen ausgeheckt. Aber man muss auch sehen, dass solcher politischer Aktivismus nicht so strukturiert ist wie ein Verein oder eine klar abgegrenzte Organisation, bei dem ein Oberhaupt das Sagen hat. Man hat vielleicht gemeinsame Ziele und stimmt in seinen Werten überein, aber es gibt keinen Anführer.
«Die Anti-Polizei-Ideologie hat eine lange Tradition, und sie macht es schwer, eine Eskalation zu verhindern.»
Michelle Beyeler, Dozentin Institut für Politikwissenschaften Uni Bern
Nun nehmen aber Politiker die Reitschulbetreiber gerne in die Pflicht, dass sie ihre Gäste besser im Griff haben sollen. Mit dem neuen Leistungsvertrag zwischen der Stadt und der Reitschule wird erstmals festgeschrieben, dass beispielsweise mutmassliche Täter nicht mehr in der Reitschule Unterschlupf finden dürfen.
Ich denke, hier wird ein Fehler gemacht. Dabei wird zu wenig differenziert und man geht zu pauschalisierend vor, was die Reitschule kann und darf. Natürlich muss die Polizei ihren Auftrag erfüllen können und Straftaten verhindern und ahnden. Das ist im Umfeld der Reitschule schwierig. Wenn man gleichzeitig die Reitschule dafür verantwortlich macht, hat das zur Folge, dass sich das Klima auch bei den nicht-radikalen Besuchern aufheizt. Dann wird die Polizei auch bei ihnen zum Feindbild.
Die Polizei wurde ja auch angegriffen.
Die Vorfälle drücken genau diese Haltung gegenüber der Polizei aus. Sie repräsentiert die Staatsgewalt und steht für die Probleme, die man angehen möchte. Die Polizei hat seit jeher die undankbare Rolle, dass sie sich gut eignet als Stellvertreter für die unterschiedlichsten Konflikte.
«Die Polizei trägt mit ihrem pauschalisierenden Auftreten selbst ihren Teil bei.»
Michelle Beyeler, Politikwissenschaftlerin
Die Polizei repräsentiert ja tatsächlich die Macht des Staates. Und für was steht sie stellvertretend?
Aus Sicht der Aktivistinnen und Aktivisten ist sie das ausführende Organ des Staates, das Organ, das Gewalt anwendet. Gleichzeitig rechtfertigen sie sich, indem sie sagen, sie würden sich nur gegen die polizeiliche Gewalt wehren. Diese Anti-Polizei-Ideologie hat eine lange Tradition und sie macht es schwer, die Eskalation zu verhindern. Gleichzeitig trägt die Polizei mit ihrem pauschalisierenden Auftreten selbst noch ihren Teil bei. Da werden Unbeteiligte mit Radikalen über einen Kamm geschert, die sich natürlich angegriffen und ungerecht behandelt fühlen.
Können Sie das erklären?
Die Gäste der Reitschule stehen bei der Polizei unter Generalverdacht. Man kann in der Reitschule nur die Leute identifizieren, die in den offiziellen Strukturen wie dem Dachstock oder dem Restaurant Sous-le-pont eingebunden sind. Das sind zwar nicht die Leute, die die ungewollten Gewaltaktionen durchführen. Aber es sind die Einzigen, die die Polizei fassen kann. Das führt dann dazu, dass die Reitschüler keine Freude an Polizeieinsätzen haben.
Ist die Polizei im Fall der Reitschule überfordert?
Das kann ich nicht abschliessend beurteilen. Fakt ist: Die Polizei braucht ein klar abgrenzbares Ziel für ihre Ermittlung, eine Person oder eine Organisation. Organisationen haben eine Führung, die man verantwortlich machen kann. Bei radikalen Gruppierungen gibt es solche Strukturen nicht. Sie nennen sich zwar Gruppe, aber sie sind nicht so organisiert. Sie sind für die Polizei schwer zu handhaben. Man kann höchstens Einzelne identifizieren, aber das Kollektiv ist schwer fassbar. Ich kann jedoch irgendwie nachvollziehen, dass die Polizei diesen Stellvertreterkrieg führt und die Probleme der Organisation anhängt, die sie identifizieren können.
«Die Medien spielen in dieser Eskalation sicher eine zentrale Rolle.»
Michelle Beyeler, Dozentin Institut für Politikwissenschaften Uni Bern
Die Beteiligten decken sich gegenseitig mit Vorwürfen ein, wie beurteilen Sie diese Kommunikation?
Der Hauptast der Kommunikation läuft momentan über die Medien. Das ist typisch für solche Konflikte. Die Flaschenwürfe haben bereits ein mediales Echo generiert. Man könnte sie wahrscheinlich stoppen, indem man sie ignoriert. Aber die Vorfälle der letzten Wochen liessen sich eben nicht ignorieren. Nach dem ersten Echo haben die Akteure nachgelegt und die Medien weiter benutzt. Die Medien spielen in dieser Eskalation sicher eine zentrale Rolle.
Also braucht es Gewalt, um erfolgreich zu protestieren?
Natürlich bekommt man mehr Aufmerksamkeit mit einer spektakulären Aktion als mit einer Mahnwache. Grosse Aufmerksamkeit bekommt man aber auch, wenn man die Massen mobilisieren kann. Eine solche Bewegung wird viel öfter in der Öffentlichkeit unterstützt. Geht die Polizei gegen eine grosse Demonstration vor, stellt sich die Öffentlichkeit eher hinter die Demonstrierenden. Eine Grossdemo ist allerdings schwerer umzusetzen, dafür braucht es auch überzeugende Inhalte.
Geht es bei den Flaschenwürfen und den anderen Vorfällen um Inhalte?
Das Ganze findet ja losgelöst von einer Massenbewegung statt, deshalb bezweifle ich es. Es geht eher darum, Frust abzulassen und zu provozieren. Zudem geniessen die Flaschenwerfer einerseits, und die Verfasser des Bekennerschreiben andererseits sicher das Echo, das sie ausgelöst haben.
«Die Schliessung der Reitschule würde eine breite Mobilisierung auslösen – auf beiden Seiten.»
Michelle Beyeler, Politikwissenschaftlerin
Insgesamt ist es eine verfahrene Situation – wie kommt Bern da heraus?
Ich sehe drei Möglichkeiten: Erstens, es gelingt, die Flaschenwerfer zu fassen. Zweite Variante wäre das Aussitzen. Spätestens nach Unterzeichnung des Leistungsvertrages wird es für die Medien weniger spannend, zu berichten oder zu kommentieren. Drittens könnte es weiter eskalieren.
Meinen Sie die Schliessung der Reitschule?
Ja, das würde dann eine breite Mobilisierung auslösen – auf beiden Seiten. Ich glaube aber nicht, dass das Problem damit gelöst wäre. Die politische Kultur und die Menschen dahinter sind deswegen nicht weg. Das Problem würde sich verlagern.