Feiern ohne Furcht

von Andrea von Däniken 9. Dezember 2023

Hauptstadt Viele Clubs führen Awareness-Konzepte ein. Doch was bringt das konkret? Das zeigt eine Nacht unterwegs mit dem Gaskessel-Team.

Es ist 5 Uhr morgens. Selina Ziegler zieht an ihrer zehnten Zigarette. Sie steht auf dem Vorplatz des Gaskessels. In dieser Nacht hat sie schon zehn weitere Zigaretten angezündet und kurz darauf wieder weggeworfen, weil sie von Kolleg*innen gerufen wurde. Sie musste Streit zwischen Clubbesucher*innen schlichten, stark Betrunkene betreuen oder sie davon abhalten, auf die Kuppel des «Chessu» zu klettern.

Kurz: Sie kümmerte sich um die Gäst*innen.

Selina Ziegler ist Teil der Betriebsgruppe Club-Care des Jugend- und Kulturzentrums Gaskessel. Sie war die ganze Nacht draussen, um bei Bedarf zu helfen – den Besucher*innen, aber auch den Mitarbeitenden.

Alejandro Iglesias ist ihr Kollege im Innenbereich. Er ist dort für Club-Care im Einsatz. Die beiden sind die rechte Hand der Produktionsleitung – die heute die Sozialarbeiterin Belinda Aréstegui innehat.

Die Aufgabe der Club-Care im Gaskessel ist einfach: Helfen, wo Hilfe benötigt wird. Sei dies beim Eingang, an der Bar oder an der Garderobe. Sei dies, um Mitarbeiter*innen zu unterstützen – oder Gäst*innen.

Club-Care gibt es schon seit einigen Jahren im Gaskessel. Der Club ist damit ein Vorreiter, der einen Bereich von Awareness abdeckt: Club-Care hilft tatkräftig, während die Awareness-Leute eher sensibilisieren, beobachten und Ansprechpersonen sind. Dabei können sie Club-Care hinzuziehen. Mittlerweile haben oder erarbeiten die meisten Clubs ein Awareness-Konzept. So wollen Clubs Diskriminierungen, Gewalt und Grenzverletzungen verhindern und die Sicherheit für alle Besucher*innen erhöhen.

Doch wie sieht das konkret aus? Um das zu ergründen, hat die «Hauptstadt» das Club-Care-Team im Gaskessel eine Nacht lang begleitet.

Techno und Substanzen

Das Briefing beginnt um 22:45 Uhr, 15 Minuten vor der Türöffnung. Alle Mitarbeiter*innen haben sich im grösseren Raum, dem Mainfloor, versammelt. Belinda Aréstegui informiert die Gruppe. Das Team sei etwas knapp besetzt an der kleineren Bar.

Der Gaskessel ist ausverkauft. Der Anlass in dieser Nacht läuft unter dem Titel Strobo und verspricht rohen, pumpenden Techno. Das junge Publikum – ab 16 Jahren kann man im Jugendclub mitfeiern – hat sich schon vor der Türöffnung um 23 Uhr auf dem Gelände eingefunden. Einige Gruppen hören laute Musik, es wird gelacht, getrunken, geraucht und wahrscheinlich auch andere Substanzen konsumiert.

Draussen macht Selina Ziegler regelmässig einen Rundgang auf dem Gelände, um sich – wenn nötig – um Gäst*innen zu kümmern (Bild: Simon Boschi).

«Es ist klar, dass dieses Format ein substanzfreudiges Publikum anzieht», sagt Belinda Aréstegui. Die Gäst*innen kommen schon vorgeglüht oder berauscht und konsumieren hier weiter. «Seit es Techno gibt, werden dazu Drogen konsumiert.» Das Konsumieren sei eine Grauzone. «Alkohol verkaufen wir ja auch», sagt Aréstegui. Es gelte aber eine Nulltoleranz beim Dealen und offenen Konsum. «Wer dabei erwischt wird, kann nicht mehr an der Veranstaltung teilnehmen.»

Selten sei es passiert, dass Clubbesucher*innen dem Personal Drogen angeboten hätten. Den Personen sei das T-Shirt mit dem Gaskessel-Schriftzug nicht aufgefallen. Das vereinfache das Ganze. «Da kann man die Gäst*innen einfach rausstellen, zu diskutieren gibt es dann nicht mehr viel», erzählt Alejandro Iglesias bei einem Rundgang im Club und schmunzelt bei der Erinnerung an eine solche Situation.

Aus diesem Grund sind an einem ausverkauften Techno-Anlass wie diesem immer zwei Personen für Club-Care zuständig.

Mille Grazie

Wobei beim Thema Awareness mittlerweile auch die Stadt Bern aktiv ist:

Gemeinsam mit dem blauen Kreuz und Contact Nightlife bietet sie Schulungen zu den Themen Alkohol und Drogen an. Teilnehmen können Clubmitarbeiter*innen. Die Schulungen behandeln den Umgang mit betrunkenen Gäst*innen, die geltenden Gesetze und alltägliche Herausforderungen. Zum Beispiel, wie man reagieren soll, wenn jemand Alkohol für Jugendliche bestellt.

Mit der Kampagne «Bern schaut hin» – einer Kampagne gegen Sexismus und Queerfeindlichkeit – hat Bern ein Meldetool und das Pilotprojekt Mille Grazie eingeführt. Mille Grazie bietet Schulungen für Clubs gegen sexualisierte Gewalt im Nachtleben an.

In der Pilotphase des Projekts Mille Grazie (März bis Dezember 2023) nehmen die Clubs Gaskessel, ISC, Dachstock, Kapitel und Bierhübeli teil. Im nächsten Jahr soll der zweite Teil des Pilotprojektes mit 5 weiteren Clubs dazu kommen.

Die erste Phase des Pilotprojektes mit den fünf Betrieben wird im Dezember beendet. Joëlle Dinichert vom Pilotprojekt Mille Grazie kann schon jetzt ein Zwischenfazit ziehen: «Unterschiedliche Betriebe brauchen unterschiedliche Massnahmen», sagt sie. Jeder Betrieb habe aus den Schulungen andere Schlüsse gezogen – angelehnt an den Bedürfnissen seiner Besucher*innen sowie den eigenen Rahmenbedingungen – und würde sie in sein Awareness-Konzept einbauen. Auch seien nicht alle Betriebe gleich fortgeschritten mit dem Awareness-Konzept. Einige der Betriebe hätten schon vor dem Pilotprojekt in Awareness-Arbeit investiert. «Der Aufbau von Awareness-Arbeit ist nicht zu unterschätzen.»

Dabei stellt sich die Frage, wer Awareness-Aufgaben übernimmt. Grundsätzlich gehe es dabei um das Thema Sicherheit. «Dafür ist naheliegend der Sicherheitsdienst zuständig», sagt Projektleiterin Dinichert.

Aber: In der Vergangenheit habe man mit dem Sicherheitsbegriff nicht alle Risiken und Lebensrealitäten mitgedacht. Und für die Sicherheit der Besuchenden seien mehrere Bereiche innerhalb eines Betriebs zuständig – von der Leitung bis zum Eingangspersonal, sagt Dinichert. «Nur gemeinsam können sie Belästigung, Queerfeindlichkeit und sexualisierte Gewalt reduzieren.»

Können ausgelassen feiern: Club-Care, Lichttechniker*innen, Security, Barpersonal oder DJ’s achten auf die Gäst*innen (Bild: Simon Boschi).

Es brauche spezifische Kompetenzen, die nicht jede Sicherheitsfirma mitbringe. Zum Beispiel sollte man gesellschaftliche Strukturen verstehen und hinterfragen und nicht nur aus der eigenen Lebensrealität denken und handeln, so Dinichert. «Es ist wichtig, dass alle Teams diverser zusammengesetzt sind, nicht nur die Teams des Sicherheitsdienstes.»

Eine andere Möglichkeit, um die Lücken bei den Sicherheitsdiensten zu schliessen, ist die Gründung von Awareness-Teams – so wie im Gaskessel.

Nicht nur Club-Care kümmert sich

Dort muss bis zur Türöffnung noch einiges organisiert werden. Aréstegui ist im Büro des Gaskessels und spricht immer wieder in ihr Funkgerät, um zu wissen, wer noch was braucht.

Etwas später, nach der Türöffnung, macht Alejandro Iglesias eine Runde durch den Gaskessel. Der Techno-Beat dröhnt und putscht auch ohne Alkohol auf. Bei der kleinen Bar macht er kurz Halt. Ein Gast wirkt etwas abgetreten und er fragt ihn, ob alles gut sei. Mit gekonntem Blick scannt Iglesias die dunklen Ecken. «Nicht nur, um zu sehen ob jemand sexuell belästigt wird, in diesen Ecken können auch Gäst*innen sitzen, die zu viel konsumiert haben und denen es entsprechend nicht gut geht», erklärt er. Auch das Barpersonal, die Lichttechniker*innen oder die DJ’s achten auf die Gäst*innen und geben bei Bedarf der Club-Care Bescheid.

Um auf die kleine Tanzfläche zu kommen, gibt es zwei Eingänge, beide sind über ein paar Stufen erreichbar. An beiden Eingängen steht je ein Mensch vom Sicherheitsdienst. Aufmerksam beleuchten sie die Treppe, wenn sich jemand nähert.

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Für das Gaskessel-Team ist klar: «Awareness braucht nicht einfach ein Konzept. Awareness muss gelebt werden – auch im Team», sagt Belinda Aréstegui. Und das wird auch an diesem Abend schnell klar: Brote werden füreinander geschmiert, Gruppenumarmungen vollzogen und immer wieder einander gefragt: «Ist alles gut bei dir?»
How to be aware
Bereits früh bei den Jugendlichen anzusetzen, die erste Cluberfahrungen machen, sei wichtig. «Wenn wir bereits bei den Jugendlichen Sensibilisierungsarbeit leisten, tragen sie ihr Wissen und ihre Erfahrung in andere Clubs weiter», sagt Lena Käsermann, Co-Leiterin des Gaskessels. Diese Arbeit sei eine Investition in die Zukunft.

Aber was versteht der Gaskessel unter Awareness?

Die Raumaufteilung in Clubs entspricht nicht mehr den Erfordernissen für Awareness. Vor diesem Problem stehen viele Clubs (Bild: Simon Boschi),

Ein wichtiger Teil von Awareness sei, über die Handlungsmöglichkeiten nach einer unangenehmen Erfahrung zu informieren, sagt die Co-Leiterin des Gaskessels. Dabei sei zentral, dass Unterstützungsangebote durch die Awareness-Massnahmen sichtbar gemacht werden und dass Grundwerte wie Respekt, Konsens, Parteilichkeit mit der betroffenen Person vermittelt werden.

Alte Räume, neue Erfordernisse

Aussenaufsicht Selina Ziegler kommt ins Büro des Gaskessels. Hier stehen Computer neben Snacks für den Abend und Traubenzucker neben Informationsblättern für Gäst*innen. Tagsüber werden hier Einsatzpläne gemacht und das Programm geplant. Abends, während einem Anlass wie diesem, fungiert das Büro im Gaskessel als eine Art geschützter Raum, ein Safer Space, wie man sagt. Hier passiert an einem Abend viel. Sehr viel.

Mitarbeitende tauschen sich aus, sprechen sich ab oder erzählen von einer Situation mit Gäst*innen, die sie beschäftigt. Gleichzeitig braucht das Club-Care-Team den Raum zur Betreuung der Gäst*innen, die zu viel getrunken haben. Mit Decke, Traubenzucker und Wasser schauen Iglesias, Ziegler oder Aréstegui zu ihnen. Sie halten den Eimer, wenn jemand erbricht und rufen die Eltern an, damit sie heil nach Hause kommen.

Auch wenn der Verdacht auf eine gefälschte ID besteht, kommt der oder die Clubbesucher*in ins Büro, um in aller Ruhe mit der Security und der Leiterin des Abends zu sprechen. Wendet sich eine Person an die Mitarbeitenden des Gaskessels und meldet sexuelle Belästigung oder Schlimmeres, erhält die Person ebenfalls im Büro Unterstützung und wird über ihre Handlungsmöglichkeiten informiert.

Gleiches Ziel, andere Bedürfnisse

Das Büro als «Safer Space» hingegen ist ungünstig. Für betroffene Personen und für die Awareness-Arbeit sei aber ein geschützter Raum wichtig. Das finden sowohl Belinda Aréstegui wie auch Joëlle Dinichert vom Pilotprojekt Mille Grazie.

Dieses Problem hätten jedoch viele Clubs. Das habe sich an den betriebsübergreifenden Schulungen gezeigt, sagt Projektleiterin Dinichert. «Die Betriebe merkten, dass andere mit ähnlichen Problemen kämpften und profitierten von deren Erfahrungen.»

Das habe letztlich zu mehr Austausch und einem Miteinander geführt – obwohl die sehr verschiedenen Clubs sich nicht gleichsetzen lassen wollten. Das Aufhängen der Plakate vom Pilotprojekt zu Awareness im Nachtleben habe nicht für alle Clubs Sinn gemacht, sagt Dinichert. Einige wollten Botschaften in eigenen Worten an ihre Gäst*innen adressieren – auch wenn sie die anderen Plakate auch gut fanden.

Ziegler drückt ihre Zigarette aus. Sie hat sie zu Ende rauchen können. Die letzten Gäst*innen haben den Gaskessel verlassen, die Mitarbeitenden räumen auf und – wie meistens am Morgen nach der Arbeit – kochen gemeinsam etwas zum Feierabend.