«Nele. Ein Sommerlibretto», das Buch der Bernerin Eva Hardmeier lag lange auf meinem Schreibtisch. Es spielt in Kiew in einem Sommer ohne Krieg. Ich kam damit nicht klar. Das schreckliche Kriegsgeschehen aus den Medien, der konkrete Alltag in Bern von zwei Frauen, die aus Kiew geflohen und mit denen wir mittlerweile befreundet sind, oder Andrij Kurkows Roman «Graue Bienen» schoben sich in den Vordergrund.
In meinen Gedanken zerlegte sich im Laufe der Monate die Geschichte von Nele in einzelne Facetten. Da sind zum Beispiel Körper oder Körperteile. Rücken, Hände, Füsse. Hände, die Füsse einreiben, die Beine oder Nacken massieren. Körper, die sich nahe kommen, die sich lieben. Ein Mensch der im Sterben liegt. Detailliert beschrieben ist die physische Präsenz des Körpers in der Wohnung ebenso wie die unsichtbare Bande der Anziehung, der Liebe und der gemeinsamen Geschichte der Liebenden.
Mozarts Musik erfüllt das Libretto mit Tönen und Melodien.
Da ist aber auch das Licht des Sommers und sind die Farben der Blätter, die zu den mächtigen Baumalleen gehören. Einzelne Strassenzüge, Häuser, Fenster. Dazu leise, aber immer hörbar Mozarts Musik. Sie erfüllt das Libretto mit Tönen und Melodien. Beim Lesen habe ich das weniger wahrgenommen als später, als meine Gedanken zu den Einzelteilen der Erzählung wanderten. Da war die Musik da.
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Zauberhaft und zart, und doch auch mit der Vorahnung des frühen Todes ihres Schöpfers. Der Roman ist Constance gewidmet. Constance Lotz ist Herausgeberin und Freundin von Eva Hardmeier und während der Arbeit am Buch an Krebs gestorben. Die Widmung könnte aber auch Constanze Mozart gelten, Sopranistin und Lebensgefährtin des früh verstorbenen Mozart.
Jetzt, wo ich das Buch von Eva Hardmeier nach einigen Monaten zur Hand nehme, setzen sich die Teile wieder zusammen. Nele reist zum ersten Mal in ihrem Leben nach Kiew, wo sie als Maskenbildnerin am Theater engagiert ist. Am Theater ist man mit den Vorbereitungen zur Aufführung der Oper Don Giovanni beschäftigt. Die Theaterleute statten die Figuren des Don Giovanni, Leporello, der Donna Anna oder Elvira mit ihren Stimmen, barocken Kostümen und kräftiger Schminke aus. Als Maskenbildnerin beschäftigt sich auch Nele mit Körperteilen: Gesicht, Haare, und ergänzt die Köpfe mit Perücken.
Eva Hardmeier ist eine genaue und einfühlsame Beobachterin des Sterbens.
Zusammen mit den Menschen im Umkreis des Theaters erlebt Nele eine fröhliche Zeit. Sie trifft auch ihre frühere Liebe Olga. Dabei entdeckt sie, dass Olgas neue Partnerin im Sterben liegt. Gemeinsam mit Olga begleitet Nele sie bis zu ihrem Tod. Nele ist gleichzeitig in beide Welten, die des unbeschwerten Lebens und des Sterbens eingebunden. Eva Hardmeier ist eine genaue und einfühlsame Beobachterin des Sterbens. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen ist ihr eine leichte und facettenreiche Erzählung gelungen. Ein Sommerlibretto auch für dunklere Zeiten.