Gäste waren bei uns im Kosovo zu jeder Zeit willkommen, obwohl sie unangemeldet kamen – Telefone waren selten – und wir auf dem Hof immer etwas zu tun hatten. Niemand hatte einen Stress deswegen. Im Gegenteil: Freude kehrte ein. Gäste waren eine Ehre. Wer viele Gäste hatte, wurde beneidet.
Für einen reichhaltigen Tisch waren die Frauen zuständig, für die Unterhaltung sorgte das Oberhaupt des Hauses. Die Gespräche führte eine Person, während die anderen zuhörten. Frauen und Männer hielten sich in separaten Zimmern auf, und es wurde auch getrennt gegessen. Kinder gehörten selten dazu.
Wie jede albanische Familie hatten wir ein Besuchszimmer, die «Odë». Es war nur für Männer und Gäste eingerichtet und bestimmt. Wenn Gäste da waren, nahm meine Mutter die Esswaren hervor, die sie speziell für solche Anlässe aufbewahrte. Sie kochte und backte die feinsten Gerichte. Die «Sofra», ein typisch albanischer runder Holztisch, wurde mit verschiedensten Speisen gedeckt.
Wir Kinder freuten uns auf die Bonbons und Karamells, die wir meistens bekamen.
Nebst anderen Gerichten durfte auch ein frisch geschlachtetes Huhn nicht fehlen, im Backofen mit Reis oder Kartoffeln zubereitet, und die «Pite», ein spezieller Blätterteigkuchen. Ab und zu wurde noch eine «Fli» gebacken, auch ein traditioneller Kuchen.
Die Zubereitung kostete viel Zeit, aber unseren Müttern wars nie zuviel. Es blieb kein Plätzchen frei auf der «Sofra». Wir Kinder freuten uns auf den Besuch, weil wir meistens Bonbons oder Karamells bekamen – und vor allem weil es ein festliches Essen gab. Wir durften zwar nicht ins Besuchszimmer, aber wir assen wenn die Gäste fertig waren.
Und wie war es in der Schweiz? Ich fühlte mich willkommen, als ich zum ersten Mal bei einer Schweizer Familie eingeladen war. Und doch war ich unsicher. Ich wusste nicht, was ich tun und lassen durfte. Gabel und Messer sah ich zum ersten Mal. Bei uns es zu Hause gab es nur Suppenlöffel. Ich beobachtete deshalb meine Gastgeber genau und versuchte unauffällig sie zu imitieren.
Im Kosovo finden die guten Gespräche erst nach dem Essen statt.
In meinem Buch «Bleibende Spuren» schrieb ich: «Bei den Bohrens (…) war es heimelig, aber ungewohnt anders eingerichtet als bei mir zu Hause. Wir genossen den hausgemachten Apfelkuchen. Gleichzeitig unterhielten wir uns. Im Kosovo ist das Sprechen während des Essens nicht üblich, dort finden die guten Gespräche erst nach dem Essen statt, beim Teetrinken. Aber ich tat so, als würde ich nichts anderes kennen.»
Journal B unterstützen
Unabhängiger Journalismus kostet. Deshalb brauchen wir dich. Werde jetzt Mitglied oder spende.
Das Umgekehrte erlebte ich, als ich nach zehn Jahren zum ersten Mal in den Kosovo zurückkehren durfte. Ich musste feststellen, dass ich einige Bräuche mit der Zeit ausgeblendet hatte, was teilweise zu Missverständnissen führte. So hatte ich beispielsweise völlig vergessen, dass man für das Essen die Köchin nicht loben sollte. (Man soll sich bei Gott bedanken und ihn bitten, das Essen zu vermehren!) Als ich – nach guter Schweizer Sitte – die Köchin lobte, wurde ich von meiner Begleiterin streng kritisiert. Das sieht ja aus, als ob wir selber nicht kochen könnten, meinte sie. Auch ausessen sollte man nicht, sonst hätte der Gastgeber das Gefühl, der Gast sei noch hungrig und man schöpfe ihm nach. Heute sind das für mich völlig unverständliche Bräuche, aber eben: Kultursache.
Kulturelle Unterschiede spüren momentan bestimmt auch die Flüchtlinge aus der Ukraine in ihren Schweizer Gastfamilien. Das kann zu Missverständnissen und Frustrationen führen und das Zusammenleben erschweren. Was hilft, ist Kommunikation, Geduld, Toleranz und Verständnis. Das ermöglicht ein gutes Zusammenleben. Und gibt uns die Möglichkeit, zwei Kulturen zu pflegen, uns auszutauschen und uns besser zu verstehen. Dann sind kulturelle Unterschiede eine Bereicherung – für beide Seiten!
Aus ihrem Buch «Bleibende Spuren» liest Basrie Sakiri-Murati am 16. Juni, 19.00, in der Quartierbibliothek Bümpliz (Bernstrasse 77). Anmeldung erwünscht an