Am Schluss weiss niemand, ob die Aufführung nun wirklich zu Ende ist. Es bleibt erst einmal still im dunklen Raum, alle warten, während die Tänzerin Ichi Go dem Publikum immer noch den Rücken zukehrt. Erst nach und nach erhebt sich zögerlicher Applaus. Das ist bezeichnend für einen Abend, der das Publikum in seinen Erwartungen, Seh- und Hörgewohnheiten herausfordert. Und damit ziemlich gut zur Eröffnung des Berner Musikfestivals passt.
Eine musikalische Auseinandersetzung mit dem Holocaust
Mit dem Stück «Ein Ermordeter aus Warschau» wagen die Opernkompanie Novoflot, der Autor Max Czollek und der Komponist Michael Wertmüller einen neuen Blick auf Arnold Schönbergs Werk «A Survivor from Warsaw». Die Performance gehört zu einem mehrteiligen Schönberg-Zyklus, den Novoflot 2022 anlässlich des 70-jährigen Todestags und damit auch dem Ende der Urheberrechte an seinen Werken begonnen hat.
Wie Sven Holm, Regisseur der freien Operngruppe, erklärt, sei Schönberg nicht nur ein Wegweiser für all jene, die sich mit Musiktheater, Improvisation und atonaler Musik beschäftigten, «seine Biografie ist auch eine Ansammlung verschiedenster Lebenskosmen, die das zwanzigste Jahrhundert auf einzigartige Weise widerspiegeln.»
Ein Teil dieser Biografie ist auch Schönbergs jüdische Herkunft, auf die er sich nach seiner Emigration aus dem Nationalsozialistischen Deutschland, wieder neu besann. Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs komponierte Schönberg das siebenminütige Werk «A Survivor from Warsaw» für Orchester, Sprecher und Männerchor. Das erschütternde Werk über den Holocaust wurde 1948 in den USA, 1949 in Paris uraufgeführt.
Schönbergs Biografie ist eine Ansammlung verschiedenster Lebenskosmen, die das zwanzigste Jahrhundert auf einzigartige Weise widerspiegeln.
Der Komponist verarbeitete darin die Niederschlagung des Aufstandes im Warschauer Ghetto von 1943. Es ist eine Art Zeugenbericht, indem ein Überlebender erzählt, wie, nach einem brutalen Übergriff durch einen deutschen Feldwebel und seine Soldaten, sich die restlichen jüdischen Männer durchzählen sollten, damit dieser wisse, wie viele er zur Gaskammer abliefere. Die Männer besinnen sich auf ihre Identität und beginnen stattdessen das Schma Jisrael zu singen, das jüdische Glaubensbekenntnis.
Erinnern ist Arbeit
Das Originalstück von Schönberg war in der Berner Dampfzentrale jedoch nicht zu hören. Überhaupt wurden von Vornherein sämtliche Erwartungen, die ein Publikum an einen musikalischen Abend zum Thema des Holocaust haben könnte, entkräftet. «Wir wollten dieses Thema von verschiedenen Seiten beleuchten», erklärt Sven Holm, «Ohne jedoch in irgendeinem Teil des Stücks uns einzubilden, wir könnten eine endgültige Aussage treffen.»
So besteht die Aufführung aus drei Teilen: Anfangs läuft man als Zuschauerin direkt in eine Ensembleprobe hinein. «Uns ging es in diesem ersten Teil auch darum zu zeigen, dass Erinnerungsarbeit ‘work in progress’ ist. Wir arbeiten uns daran ab. Es ist eine nie endende Arbeitssituation», so Holm. Die Musiker*innen proben einige Ausschnitte von Schönberg, dann ist die Probe zu Ende und alle gehen ihren eigenen Beschäftigungen nach. Sie trinken zusammen Kaffee, wärmen sich auf oder proben einzelne Gesangspartien.
Die zwei Sängerinnen Rosemary Hardy und Noa Frenkel sowie die Tänzerin Ichi Go rezitieren dabei höchst unterschiedliche Texte aus Prosawerken und Interviews von Kathy Acker, Yoko Tawada und Claude Simon. Es geht um die Übersetzung des eigenen Selbst, um Körperlichkeit und um die Frage: Wie kann es sein, dass ich als einziger überlebt habe? Nicht bei allen Texten wurde der Bezug zu «A Survivor from Warsaw» ersichtlich und man fragte sich bisweilen, ob es nicht teilweise passendere Texte gegeben hätte.
Der Abend konkretisiert sich etwas mit dem Auftritt des Autors Max Czollek im zweiten Teil. Er beginnt mit der Frage: Wie sollen wir erinnern, wenn es keine Zeitzeug*innen mehr gibt und vor allem keine Täter*innen mehr gibt, die man zur Rechenschaft ziehen könnte? Das Erinnern, so behauptet Czollek, endet aber nicht mit dem Sterben der Überlebenden. Weil es eben nicht nur um die Überlebenden geht, sondern vor allem um die Ermordeten.
Nicht umsonst, so wird auch dem Publikum im Verlaufe des Abends klar, heisst die Aufführung «Ein Ermordeter aus Warschau». Czollek, der auch schon in seiner Streitschrift «Desintegriert euch!» die deutsche Selbstbeweihräucherung der eigenen Erinnerungskultur angegriffen hatte, kritisiert in seiner Rede sprachlich pointiert die Haltung vieler, dass es jetzt dann auch mal gut sei mit dem Erinnern. Stattdessen müssten wir uns bewusst werden, dass «nie wieder alles gut wird».
«Das Gute im Menschen»
Im dritten Teil bekommt das Publikum die sechsteilige Komposition von Michael Wertmüller mit dem Libretto von Max Czollek zu hören, besser gesagt, am eigenen Leib zu spüren. Zarte Streicherklänge wechseln sich mit groovigen Rhythmen und verstörenden elektrischen Klängen, atonale Klangkonstrukte stehen neben fast schon gewalttätig wirkenden Schlagzeugsoli.
Wir befinden uns in Zeiten der Sprachlosigkeit
Das funktioniert erstaunlich gut, die Zuschauer*innen werden mitgerissen in eine dunkle Klangwolke, die doch immer wieder mal kurze (zumindest melodisch) versöhnliche Momente mit sich bringt. Nur der Text kommt daneben etwas wenig zum Tragen, denn er wird nur sehr kurz eingeblendet, aus dem Gesang selbst ist er fast nicht herauszuhören. Zum Glück gibt es ihn als Libretto zum Mitlesen, denn er stösst viele Fragen und Themen an, über die zu reden es sich lohnen würde:
«Und was, wenn wir so angefangen haben
Mit den Lebenden
Den Überlebenden, weil wir die Geschichte
Der Toten nicht ertragen hätten
Nicht ertragen würden.»
Auch in diesem dritten Teil steht die Musik nie für sich allein. Tische und Stühle werden verrückt, eine Filmsequenz wird abgespielt. Darin treffen sich fünf Menschen an einem Tisch zu Kaffee und Kuchen und erzählen sich gegenseitig ihre Geschichten, die wieder unterschiedliche Reaktionen hervorrufen: mal Trauer, mal Lachen, mal Wut.
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«Die Frage ist eigentlich: Welcher Affekt kann in diesen Zeiten heute überhaupt passend sein?», erklärt Holm die Überlegungen dahinter, «Wir befinden uns in einer Sprachlosigkeit, bezüglich des Holocausts sowieso, da ist man immer sprach- und hilflos.» Die Filmsequenzen sollten verschiedene Möglichkeiten des Umgangs damit aufmachen, ohne dass aber am Ende klar werde, was denn nun genau passe.
Es ist genau dieses Verharren in der Ungewissheit, dieses Aushalten des Unauflösbaren, das «Ein Ermordeter aus Warschau» ausmacht. Am Schluss bleibt nicht nur der eindringliche Text und die Musik hängen, die tief unter die Haut geht. Am Schluss bleiben vor allem auch viele Fragen offen. Und genau das ist die Absicht des Ensembles Novoflot, von Czollek und Wertmüller. Denn einfache Antworten gibt es nicht. Und vielleicht gibt es überhaupt keine Antworten, sondern nur immer wieder den Versuch, nach Antworten zu suchen.