«Es war immer irgendwie ‹Action›!»

von Claudia Engler 31. März 2023

B-Kanntschaft: Marie-Therese Lauper ist seit 16 Jahren als Turmwartin und stellvertretende Sigristin im Münster tätig. Ende März geht sie in Pension. Ein Gespräch über ihren Traumjob, übers Abschiednehmen und ihre weiteren Pläne.

Marie-Therese Lauper, es gibt in der Schweiz nicht viele Arbeitsplätze mit ihrem Aufgabengebiet. Wie «wird» man Turmwartin des Berner Münsters?

Marie-Theres Lauper: Von der Ausbildung her bin ich ursprünglich Primarlehrerin. Doch als ich seinerzeit mein Patent erhielt, gab es zu viele Lehrerinnen und Lehrer, so dass ich mich zur Reiseleiterin weiterbildete. Schon als Kind wollte ich einen Beruf haben, der mit Menschen, Sprachen und Reisen zu tun hat. Auch Flugbegleiterin wäre eine Option gewesen, doch hat mich die Reiseleitung letztlich mehr interessiert. Man ist auch einmal stationär und kann sich intensiver mit einem Land, seiner Kultur und der dortigen Bevölkerung auseinandersetzen, als wenn man ständig in der Welt herumjettet. Dank meiner Sprach- und Arbeitsaufenthalte in Nordirland, Frankreich, Italien und Spanien kann ich mehrsprachig Führungen anbieten. Sprachkompetenz ist eine wichtige Voraussetzung für das Amt als Münsterturmwartin, es kommen Besucherinnen und Besucher aus der ganzen Welt auf den Turm.

Nach Bern bin ich der Liebe wegen gekommen und habe in verschiedenen Funktionen gearbeitet, habe Deutsch für Fremdsprachige und Schwyzerdütsch gegeben und als Stadtführerin für «Bern Welcome» unterrichtet. Und dann war es Zufall oder eben kein Zufall, dass die Stelle als Münsterturmwartin ausgeschrieben wurde. Eine Kollegin von «Bern Welcome» machte mich auf das Inserat aufmerksam, welches ich zunächst wieder weggelegt habe. Wirklich erst am Tag vor Bewerbungsschluss fiel es mir wieder in die Hände. Noch abends spät habe ich die Bewerbung geschrieben, bekam eine Einladung zu einem ersten Vorstellungsgespräch, dann zu einem zweiten, bei welchem fast der ganze Kirchenrat anwesend war, und erhielt am Auffahrtstag die Zusage. Das hat seine ganz eigene Symbolik, das ist mir ob all der Freude über die Zusage erst nachher bewusst geworden. Allerdings: Der Weg auf den Turm ist keine Auffahrt, sondern jeweils ein anstrengender Aufstieg (lacht).

Sie waren die erste Turmwartin, die nicht mehr im Turm wohnt?

Genau, das hing auch damit zusammen, dass sich die Bauhütte wegen der Restaurierung der Turmspitze im Gewölbesaal einrichten musste. Es wäre gar nicht möglich gewesen, rein vom Lärm her, in der Turmwohnung zu leben. Ich bin froh, nicht im Turm zu wohnen, denn das wäre eine ziemliche Herausforderung. Abgesehen vom Zugang über so viele Treppenstufen wäre man immer verfügbar, hätte keinen Rückzugsort. Zudem wäre man während der Öffnungszeiten immer von Menschen umgeben, vor den Fenstern stände immer jemand, lüften wäre in diesen Zeiten nicht möglich, die Wohnungstür müsste ebenfalls geschlossen bleiben, sonst hätte man ungebetenen Besuch.

Einmal kamen sechs Polizisten, die von Nachbarn alarmiert wurden, weil ein Orgelschüler mitten in der Nacht seinen Kollegen den Turm zeigen wollte.

Das Problem des fehlenden Rückzugsortes hat sich im Vergleich zu meinen Vorgängern noch verschärft, da das Münster inzwischen alle Tage offen ist und der Eventraum auch abends Gäste auf den Turm bringt. Man hätte wirklich keine Ruhe mehr! Die heutige Lösung ist gut, und dass der Eventraum so gefragt ist, freut mich ebenfalls. Übrigens habe ich doch selten einmal auf dem Turm übernachtet, etwa wenn ich abends noch spät einen Anlass betreut habe und schon früh der nächste Termin anstand oder am nächsten Tag Schnee angesagt war und damit frühmorgens schaufeln. Geschlafen habe ich aber nie gut dort oben – die Morgenstimmungen hingegen waren fantastisch! Es gab auch immer wieder wunderbare Momente, da man ja in meiner Funktion auch zu Zeiten im Gebäude ist, in denen sich sonst niemand darin aufhält. Richtig mystisch ist es spätabends im Chor, da gibt es unglaubliche Stimmungen. Da kam es durchaus vor, dass ich mich auf den Boden gelegt habe und mit den Heiligen im Chorgewölbe Raum und Licht genossen habe.

Sie haben Ihr Amt im September 2007 angetreten. Fällt Ihnen das Abschiednehmen nach so vielen Jahren leicht?

Nein, natürlich nicht, für mich war und ist diese Stelle ein Traumjob. Als mich Sigrist Felix Gerber erstmals auf die Pensionierung ansprach, war ich fast schockiert, ich hatte mir gar keine Gedanken darüber gemacht. Aber das vorzeitige Ansprechen war wichtig, so hatte ich genug Zeit, darüber nachzudenken, was ich noch erledigt haben wollte und wann ich gehe. An sich wäre es schon Ende 2022 so weit gewesen, doch ein Abschied über die Festtagszeit, in der so viele Veranstaltungen und Jahresabschlussarbeiten anstehen, kam nicht in Frage. Ich gehe jetzt Ende März und werde wohl bis zum letzten Tag anwesend sein. Und sowieso ist mein Abschied relativ, ich gebe zwar meine Ämter und damit die Verantwortung ab, werde aber weiterhin für Führungen zur Verfügung stehen. In diesem Sinne werde ich nichts vermissen.

Aber zurück zum «Abgeben»: Zunächst ist mir wichtig, dass ich meiner Nachfolgerin Daniela Wäfler alles sauber aufgeräumt hinterlasse, sie soll nicht noch alte Pendenzen übernehmen müssen. Dann ist mir wichtig, sie sorgfältig in die vielfältigen Aufgaben einzuführen. Die Arbeit umfasst ja nicht nur das Turmwartamt, ich bin ja noch Stellvertreterin des Sigristen, mache Führungen und Sicherheitsaufsicht bei Konzerten, betreue das Reservationssystem und die Website, organisiere Veranstaltungen, schreibe Verträge und Rechnungen und so weiter. Es gibt viel informelles Wissen weiterzugeben, und alles muss von Anfang an reibungslos weitergehen können.

Nach so vielen Jahren haben Sie sicher auch einige aufregende Erlebnisse während ihrer Arbeit. Was werden Sie in Erinnerung behalten?

Ich erinnere mich hauptsächlich an schöne, erfreuliche Erlebnisse mit Turmbesuchern. Es ist ja so, dass die Besucherinnen und Besucher in der Regel sehr glücklich sind, dass sie den Aufstieg geschafft haben, und dann von der Aussicht überwältigt sind. Das ergibt zwangsläufig eine positive Stimmung. Es gibt natürlich auch ein paar ärgerliche, traurige oder im Nachhinein lustige Erinnerungen. Einmal kamen sechs Polizisten, die von Nachbarn alarmiert wurden, weil ein Orgelschüler mitten in der Nacht seinen Kollegen den Turm zeigen wollte. Oder das Liebespärchen, das man im Münster eingeschlossen vermutete und deshalb das ganze Gebäude mit der Taschenlampe durchsuchte, dabei waren die beiden lediglich auf der Münsterplattform von der Schliessung überrascht worden und hatten den «Notausgang» nicht gefunden.

Immer etwas stressig waren Aktionen wie die des Basejumpers, wenn heimlich Transparente angebracht worden sind oder jemand bis zur Spitze hochklettern wollte.

Wirklich lustig war der Polizeianruf anlässlich eines Konzertes. Ich dachte zuerst, da erlaube sich jemand einen Scherz mit mir. Einer Streife war aufgefallen, dass das Münster weitgehend dunkel war, die Türen abgeschlossen und über mehr als 20 Minuten ununterbrochen ein gleichförmiger, einzelner Ton der Orgel zu hören war. Die Vermutung lag nahe, dass dem Organisten etwas zugestossen sei. Doch ich konnte rasch Entwarnung geben: Es war nur ein experimentelles Konzert! Aber es ist doch erfreulich, dass die Streife so aufmerksam war. Immer etwas stressig dagegen waren Aktionen wie die des Basejumpers, wenn heimlich Transparente angebracht worden sind oder jemand bis zur Spitze hochklettern wollte. Mir war jedenfalls nie langweilig, es war irgendwie immer «action», jeder Tag anders.

Welche Wünsche hätten Sie für die Zukunft des Münsters?

Schön wäre, wenn das Münster weiterhin seine heutige Ausstrahlung beibehält. Es ist ja so etwas wie die Seele der Altstadt, ein Generationenwerk, das nie abgeschlossen ist. Dies spüren vor allem Kinder, die die Faszination des Bauwerks intuitiv erkennen. Sie beobachten genau und lassen sich zum Beispiel von den Fabelfiguren der Wasserspeier oder derjenigen am Westwerk begeistern. Auch das bunte Dach der Christkatholischen Kirche löst immer wieder Fragen aus. Diese Beobachtungen freuen mich, da die heutigen Kinder ja andere Medien gewohnt sind, offenbar haben sie das Beobachten und das Fragen nicht verloren. Bei Kindern auf dem Turm erlaube ich mir manchmal ein kleines Scherzchen: Ich mache ihnen weis, dass man die Öffnungen im Flechtwerk der Balustrade extra als Ausgucke für sie geschaffen habe. Da staunen sie jeweils und die Eltern grinsen!

Nach dem Münster noch zu Ihnen. Sie sind ja unglaublich vielseitig interessiert und engagiert. Erst kürzlich haben Sie zum Beispiel eine Stadtführung für ukrainische Studierende der Universität Bern gemacht. Welche Pläne für die Zukunft haben Sie, abgesehen von den Führungen durchs Münster oder als Stadtführerin?

Ja, ich habe immer viel und parallel gemacht, das möchte ich weiterführen. Ich freue mich, dass ich nun Rosinen picken darf. Zunächst erhoffe ich mir mehr Zeit fürs Lesen, mehr Zeit fürs Kochen und das Ausprobieren neuer Rezepte, dazu gehört auch ein Pilzkurs. Gerne würde ich das Aquarellmalen wieder aufnehmen, in Ruhe den Blick vom Turm festhalten, das habe ich in den 16 Jahren nie geschafft; auch Töpfern ist ein Thema, dann Velofahren und Wandern, die schönen Tage kann ich nun ja frei nutzen.

 

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