«Es passieren immer verrückte Sachen»

von Janine Schneider 7. April 2023

Das Berner Lesefest Aprillen feiert seine zehnte Ausgabe. Ein Gespräch mit den Leiterinnen Sandra Künzi und Tabea Steiner über die Berner Literaturszene, bewegende Lyrik und den Drang, die Welt zu begreifen.

Journal B: Aprillen wird zehn. Wie kam es 2014 zur ersten Ausgabe des Lesefests? 

Sandra Künzi: Das Schlachthaus Theater wurde immer wieder von verschiedenen Literatinnen und Literaten für Buchtaufen angefragt, unter anderem auch von mir. Für das Theater sind solche Einzelanlässe aber schwierig. Sie blockieren den ganzen Betrieb. So ist die Idee entstanden, alle diese Berner Autorinnen und Autoren zu einem Festival zusammenzunehmen.

Tabea Steiner: Maike Lex und Myriam Prongué, die damaligen Leiterinnen des Schlachthaus Theater, haben uns gefragt, ob wir Lust hätten, zusammen ein solches Festival zu organisieren. Weshalb sie ausgerechnet uns beide zusammenbringen wollte, ist mir bis heute ein Rätsel.

SK: Ich finde, das haben sie sehr gut gemacht. (beide lachen)

Was hat sich seit der ersten Ausgabe verändert?

SK: Einige Formate hatten wir nicht von Anfang an im Programm. Die Mittagslesung und die Familienlesung zum Beispiel. Aber was die Grösse des Festivals betrifft, hat sich nicht viel verändert. Die Räumlichkeiten sind vorgegeben, das heisst wir können innerhalb des Schlachthaus Theater räumlich nicht expandieren. Und wollten es auch nicht.

TS: Vieles hat von Anfang an gut funktioniert. Weshalb wir bisher wenig Druck verspürt haben, etwas daran zu ändern. Aber wir diskutieren die Formate des Lesefests jedes Jahr aufs Neue. Und haben uns bisher immer dazu entschieden, sie so beizubehalten. Es macht einfach zu viel Spass.

Es gibt nie genug Literaturplattformen!

2022 wurde das Berner Literaturfest abgesagt und der Trägerverein aufgelöst. Damit wurde das Aprillen zum einzig verbliebenen Literaturfestival der Stadt Bern. Wäre das nicht eine Chance gewesen, zu wachsen und diese Lücke zu füllen?

SK: Wir wurden oft darauf angesprochen und haben es auch diskutiert. Aber haben schnell gemerkt, dass wir das nicht wollen. Zumindest nicht unter dem Namen Aprillen. Aprillen ist eine Koproduktion mit dem Schlachthaus Theater, die sehr gut funktioniert, so wie sie jetzt ist. Und so soll es auch bleiben. Wir fanden, es gäbe genug andere Leute, auch jüngere, die das übernehmen könnten.

TS: Programmieren ist eine Machtposition. Mir war es wichtig, nicht an zu vielen Orten in dieser Position zu sein. Sonst reproduziert man das, was man selbst kritisiert. Ich bin neben dem Aprillen noch in Thun am Literaturfest und in der Paul Klee Literaturgruppe beteiligt. Das reicht. Die eigene Leseperspektive ist schliesslich auch beschränkt und Programme sollten sich nicht wiederholen.

Bräuchte es überhaupt noch ein anderes Literaturfestival?

SK: Es gibt nie genug Literaturplattformen! Aprillen deckt nicht alles ab, überhaupt nicht.

TS: Durch das Wegfallen des Literaturfests ist ganz klar eine Lücke entstanden. Ich hoffe, dass sich da bald etwas Neues ergibt. Es gibt in Bern zwar viele Institutionen, die Literaturanlässe organisieren, aber ein Festival ist in dem Sinne besonders, als dass es die Menschen noch mehr zusammenbringt als einzelne Veranstaltungen. Deshalb fände ich es sehr wichtig und schön, wenn ein neues Festival entstehen würde.

Nach dem frühneuhochdeutschen Wörterbuch, bedeutet «aprillen» so viel wie «ein Brachfeld erstmalig pflügen». Seht ihr da einen Bezug zu eurem Festival?

SK: Ja! Es geht zwar nicht darum, etwas erstmalig zu pflügen. Aber wir versuchen, jedes Jahr wieder einen fruchtbaren und bepflanzbaren Boden zu schaffen und Leute zusammenzubringen, damit Neues entstehen kann.

Im Gegensatz zu anderen Städten, spielt die Literatur in Bern eine geringere Bedeutung. Es gibt zum Beispiel kein Literaturhaus. Liegt die Berner Literatur brach?

TS: Finde ich überhaupt nicht. Bern hat eine starke Literaturtradition, in der Mundart, aber auch sonst. Die Vielfalt ist extrem, auch im schweizerischen Vergleich.

SK: Ich frage mich auch, ob ein Literaturhaus für mehr Literatur stehen würde. Nur ein Literaturhaus alleine ist für mich kein Garant für eine vielfältige oder reichhaltige Literatur.

TS: Ich finde Literaturhäuser etwas Gutes und auch Wichtiges. Aber vielleicht ist die Veranstaltungsszene in Bern gerade so vielfältig, weil es kein Literaturhaus gibt.

SK: Es gibt offenbar eine Sehnsucht nach einem Symbol, an dem man sich festhalten kann. Sei es ein Literaturfest oder ein Literaturhaus. Schaden würde es auf keinen Fall. Aber ich wehre mich dagegen, zu sagen, dass Bern ohne Literaturhaus keine Literaturstadt ist.

Ihr seid beide auch selbst Autorinnen. Inwiefern beeinflusst das euren Blick auf die Organisation eines solchen Festivals?

SK: Es ist einfach sehr praktisch, selber zu wissen, wie es ist, als Autorin aufzutreten. Ich kann auch viel besser einschätzen, wieviel Aufwand hinter einem Auftritt steckt, und diesen daher auch angemessen honorieren.

TS: Seit ich selbst Autorin bin, ist es mir noch wichtiger geworden, möglichst fair zu programmieren. An vielen Literaturfestivals stehen immer mehr einzelne Autorinnen und Autoren im Fokus. Ich möchte wegkommen von diesen Headlinern, von diesem Starkult. Medien fragen zum Beispiel oft, was unser Highlight ist. Ich mochte diese Frage noch nie. Aber seit ich selbst publiziert habe, mag ich sie noch viel weniger. Es hat etwas Abwertendes. Ich will diese Unterscheidung gar nicht machen. Es ist die Mischung, die es ausmacht.

Vielleicht ist die Veranstaltungsszene in Bern gerade so vielfältig, weil es kein Literaturhaus gibt.

Jedes Jahr wählt ihr einen Schwerpunkt, der literarische Randgenres beleuchtet. Das können sehr unterschiedliche Gattungen sein: Graphic Novels, literarische Philosophie oder politische Literatur. Dieses Jahr wird die Reihe «Kontinentaldrift» heissen und die Themen Migration, Herkunft und Identität behandeln. Was muss Literatur mitbringen, damit sie für Aprillen interessant und relevant ist?

SK: Relevant ist sie für mich dann, wenn sie sich mit Gegenwartsthemen befasst. Wenn sie diesen Drang hat, die Welt zu begreifen. Das kann auch sprachlich und nicht nur inhaltlich sein.

TS: Es soll Literatur sein, die Lust hat in Dialog zu treten. Gerade weil Aprillen ein Festival der Begegnungen ist. Für mich ist es zudem wichtig, welche Fragen Literatur stellt. Und nicht, welche Antworten sie gibt. Natürlich geht es auch um die Suche nach Antworten. Aber dahinter steckt eine andere Haltung.

SK: Ausser wir würden Ratgeberliteratur ins Zentrum stellen. Das hatten wir noch nie.

TS: Das könnten wir ja mal machen. Das wäre dann ein deutliches Zeichen dafür, dass uns die Ideen ausgegangen sind. (lacht)

SK: Dann sollten wir gehen!

TS: How to leave.

SK: Von der Schwierigkeit loszulassen.

TS: Von der Schwierigkeit zu altern. (beide lachen)

SK: ich glaub Tabea und ich schreiben einen Ratgeber! Oder besser: eine Ratgeberin.

Einer eurer jährlichen Schwerpunkte ist die Lyrik. Interessiert sich denn heute überhaupt noch jemand für Lyrik?

TS: Ich bin grosse Lyrik-Liebhaberin! Aber ich habe das Gefühl, die Leute interessiert Lyrik fast mehr zum Hören als zum Lesen. Ich erinnere mich an eine französischsprachige Lyriklesung bei Aprillen, als ein Mann und eine Frau hinter mir im Publikum sassen. Es stellte sich heraus, dass er überhaupt kein Französisch konnte und trotzdem an die Lesung gekommen war. Das fand ich sehr schön. Weil es bei Lyrik ja ähnlich wie bei einem Konzert sehr stark um den Klang geht.

Das Klischee von langweiliger, verkopfter Literatur hat sich nie bewahrheitet.

Weshalb habt ihr euch entschieden, Lyrik als Schwerpunkt zu setzen?

TS: Einerseits gibt es sehr wenige Plattformen für Lyrik. Lyrik wird zum Beispiel auch sehr schlecht verkauft. Es gibt zwar wahnsinnig viele Leute, die Gedichte schreiben, aber nicht so viele, die Lyrik lesen. Und andererseits eignet sich Lyrik einfach auch sehr gut für ein Festival. Es passieren immer verrückte Sachen.

SK: Ich hatte vor Aprillen kaum etwas mit Lyrik zu tun. Und war dann selbst erstaunt, wie gut das funktioniert. Das Klischee von langweiliger, verkopfter Literatur hat sich nie bewahrheitet.

TS: Seit letztem Jahr haben wir nun ein neues Format. Im Rahmen der «Lyrikdialoge» laden wir fünf Lyriker*innen nach Bern ein. Letztes Jahr haben sie die verrücktesten Sachen gemacht. Ich bin gespannt, wie es dieses Mal wird. Vielleicht ein wenig ruhiger. Aber wir wissen auch selbst nie, was dabei herauskommt. Es ist ein sehr lebendiges Format.

Journal B unterstützen

Unabhängiger Journalismus kostet. Deshalb brauchen wir dich. Werde jetzt Mitglied oder spende.

Das dritte Format sind die sogenannten Kombinationen. Wie entstehen diese?

SK: Dazu bringen wir Künstlerinnen oder Künstler zusammen auf die Bühne, oft in der Kombination Literatur und Musik. Im besten Fall ist eine Kombination eine Erstaufführung. Die Leute sind idealerweise vorher noch nie zusammen aufgetreten. Es ist also ein Experiment, auf das sie und das Publikum sich einlassen. Eines, das nicht immer gelingt. Aber wenn es gelingt, dann sind das sehr tolle Momente.

TS: Eine wunderschöne Kombination, die sehr gut funktioniert hat, war zum Beispiel letztes Jahr die mit Nadja Zela und Ariane Koch, die zusammen den Roman von Ariane Koch vertont haben. Das war eine sehr berührende Performance. Sie haben sich vorher nicht gekannt und touren jetzt mit dieser Performance. Für uns ist es immer sehr schön, wenn wir Leute zusammenbringen können und sich daraus etwas weiterentwickelt.

SK: Das ist die kreative Seite des Veranstaltens. Wir suchen nach einem bestimmten Gefühl, einer bestimmten Farbe für jeden Programmpunkt. Wenn wir das schaffen – dann kommt es gut.

Wo seht ihr Aprillen in zehn Jahren?

SK: Ich hoffe, dass ich in zehn Jahren nicht mehr bei Aprillen dabei sein werde. Dass ich stattdessen mit Tabea wandern gehe oder sonst etwas Schönes mache. Mein Ziel wäre es, dass sich das Festival bis dann von uns als Personen gelöst hat und etwas Eigenständiges geworden ist. Das ist eine Herausforderung, die uns noch bevorsteht.

TS: Aber bis dahin haben wir noch viele Ideen, die wir verwirklichen möchten.

SK: Das ist eben das Problem! Schon jetzt haben wir eine Liste mit Personen, die wir nächstes Jahr gerne einladen würden. Und die Liste wird immer länger.