«Es ist so einfach, abstrakt über Armut zu sprechen»

von Regine Strub 1. Mai 2018

Avji Sirmoglu und Christoph Ditzler aus dem Planet 13 werden konkret.

Als ich an einem Nachmittag in das Internet-Café Planet13 im belebten Klein-Basel komme, ist es voll. In insgesamt drei Räumen an schätzungsweise rund 28 PC-Arbeitsplätzen sitzen die unterschiedlichsten Menschen an den Pulten und arbeiten am Computer. Auffallend ist, dass mehr Männer als Frauen anwesend sind und die Mehrheit wahrscheinlich einen Migrationshintergrund aufweist. Die Stimmung ist relativ ruhig, alle arbeiten still und konzentriert. Ein junger, freundlicher Mann, der hier ehrenamtlich arbeitet, führt mich zum Büro. Dort warten Avji Sirmoglu und Christoph Ditzler auf mich. Ein Bürostuhl wird von Jacken befreit und mir zum Sitzen angeboten. Avji Sirmoglu entschuldigt sich für das vollgestopfte Büro, das gleichzeitig als Lagerraum dient, während Christoph Ditzler mir erst mal einen Kaffee holt.

Die typische Einstiegsfrage

«Wie ist es gekommen, dass Sie arm sind?» Ditzler lacht über meine etwas steile Einstiegsfrage. Zu oft wurde diese Frage wohl gestellt und allzu oft geht es darum, dass man die Ursache bei den Betroffenen sucht. Bei den besonderen Lebensumständen, der schwierigen Biographie oder den persönlichen Problemen, den fehlenden Ressourcen. Und indem sich diese rechtfertigen müssen. Warum er arm sei? «Weil man lebt», ist die knappe Antwort des 62-Jährigen. Und fügt hinzu, dass es sich bei ihm um Mobbing gehandelt habe. Auch bei Sirmoglu war es der Verlust des Arbeitsplatzes. Auf jeden Fall kann es jedem passieren, sind sich die beiden einig. Sie gehören zu den Gründungsmitgliedern des Internetcafés Planet13, das letztes Jahr sein zehnjähriges Bestehen feierte. Aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung haben sie sich mit der Armutspolitik der Schweiz auseinandergesetzt und sich kürzlich in der Zeitschrift «Widerspruch» in einem Artikel mit dem Titel «Strategien gegen Armut» zur Armutspolitik der Schweiz geäussert.

«Nicht die Armut wird bekämpft, sondern die Armen»

Christoph Ditzler

«Ständig unter Druck»

«Arm sein in der Schweiz bedeutet, dass die Lebenshaltungskosten nicht mehr mit dem eigenen Einkommen vollständig gedeckt werden können», definiert Sirmoglu Armut. Sie bezeichnet sich selbst als «ältere Dame» und äussert sich differenziert und überlegt. «Zum Beispiel, weil man keinen Zugang zum Lohnerwerb mehr hat». Etwas direkter äussert sich Ditzler: Arm sein bedeute, dass man einer Art Regime ausgesetzt sei. «Man ist ständig unter Druck, fühlt sich beobachtet, kontrolliert und staatlichen Repressionen ausgesetzt.» Er könne zu seiner Armut offen stehen, weil er eine grosse Wut auf dieses System verspüre und weil er diese Wut im Internetcafé konstruktiv nutzen könne, begründet Ditzler später im Gespräch seine Bereitschaft, zu seiner Armut öffentlich zu stehen. «Die meisten können das nicht», weiss er. «Nicht die Armut wird bekämpft, sondern die Armen», ist Ditzler überzeugt. Auch Sirmoglu kann zu ihrer Armut stehen, weil sie im Planet13 eine sinnvolle Tätigkeit hat und sich für Armutsbetroffene einsetzen kann.

 

Überfüllte Wohnung und billiges Essen

Die Einschränkungen im Alltag sind vielfältig, wenn man wenig Geld hat, erzählen die beiden. Sirmoglu, berichtet, dass sie in einer kleinen Wohnung lebe. Weil sie ihre Sachen beim Umzug von der grösseren Zweieinhalb-Zimmerwohnung in eine kleinere Zwei-Zimmer-Wohnung damals nicht alle einfach wegwerfen wollte, sei ihre Wohnung nun total überfüllt. «Das hat nichts mit Messie-Syndrom zu tun, alles ist sauber», aber sie schäme sich und könne deshalb niemanden mehr in ihre Wohnung einladen. Ditzler erzählt, dass man sich nur billiges Essen leisten könne – was meistens nicht gesund sei. Ditzler, der zwischendurch aufsteht, um vor der offenen Balkontüre zu rauchen, erzählt, dass sein kulturelles Leben trotz Kulturlegi inexistent sei. Auch der halbe Preis eines Eintrittes sei für ihn, wie für andere Armutsbetroffene auch, kaum bezahlbar. Wenn man sich einmal so etwas leisten wolle, müsse man in einem anderen Bereich das Geld einsparen, erzählt er. Dass sich nach und nach der Freundeskreis verkleinere, liege in der Natur der Sache. Am Anfang bezahlten die grosszügigen Freunde einem vielleicht noch etwas, aber mit der Zeit wolle man dies selber nicht mehr. Seine Wohnsituation beschreibt er so: «Ich wohne beim Bahnhof direkt neben den Geleisen und höre jeden Zug, der rein- oder rausfährt». In Basel-Stadt liege die Mietzinslimite für Sozialhilfebeziehende für einen Einpersonen-Haushalt bei 700 Franken exklusive, erzählen beide. Es sei sehr schwierig, eine Wohnung zu finden. Gemäss der Obdachlosenhilfe Schwarzer Peter in Basel-Stadt, haben rund 400 Menschen die Adresse des Vereins als Adresse angegeben und sind damit wohnungslos. Obwohl schweizweit keine offiziellen Zahlen zu Obdachlosigkeit existieren, gehen sie davon aus, dass rund 20 Prozent davon regelmässig draussen übernachten.

Arbeitsprogramme keine wirkliche Hilfe

Auch die Arbeitssuche gestaltet sich für Armutsbetroffene mitunter schwierig. Wie ist es, wenn man eine Stelle sucht und 599 andere Personen bewerben sich ebenfalls um diese Stelle? Wenn man nicht einmal mehr eine Absage oder die Bewerbungsunterlagen zurück erhält, weil das Porto für so viele Menschen die Firma einfach zu viel kosten würde? Avji Sirmoglu hat dies selber erlebt und sieht, dass es vielen Menschen, die ins Internetcafé kommen, ähnlich ergeht. «Zu viele Menschen rangeln sich um den gleichen Job», erzählt Sirmoglu. Menschen mit fehlenden Qualifikationen bekämen dies besonders zu spüren. Und die Arbeitsprogramme im sogenannten zweiten Arbeitsmarkt seien keine wirkliche Hilfe. «Ich habe noch nie jemanden erlebt, der dank der Teilnahme an einem solchen Programm eine Arbeitsstelle gefunden hat», stellt Ditzler fest. Was den beiden Sorgen bereitet, ist die Tatsache, dass die meisten Menschen, die das Internetcafé besuchen, kaum eine realistische Perspektive auf einen festen Arbeitsplatz haben. Und dieser Eindruck ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Immer mehr Menschen sind über längere Zeit auf Sozialhilfe angewiesen. Besonders schwer haben es Personen mit geringer beruflicher Qualifikation, Alleinerziehende und über 55-jährige Erwerbslose.

«Es ist so einfach, abstrakt über Armut zu sprechen»

Avji Sirmoglu 

Fehlendes Verständnis

Für die meisten Besucher und Besucherinnen des Internetcafés bedeute Armut vor allem Stress, so Sirmoglu. Bei der Arbeitssuche, beim Sozialamt, bei der Wohnungssuche oder beim Umgang mit den Behörden. So sei sie Fremdsprachigen behilflich beim Verstehen von amtlichen Briefen. Häufig laufe den Betroffenen der Schweiss nur so von der Stirn, wenn sie ihr einen amtlichen Brief zeigen und erwartungsvoll auf ihre Antwort warten. Bedeute sie, dass der Inhalt positiv sei, seien sie sehr erleichtert. Viele würden den Gang zum Sozialamt fürchten, stellt Sirmoglu fest. Sie ist zwar nicht vollständig überzeugt von der Idee eines garantierten Grundeinkommens. Aber wäre dieses in der letzten Abstimmung angenommen worden, hätte es zumindest vielen Menschen den Stress erspart. Überhaupt sei den meisten, nicht armutsbetroffenen Menschen, kaum bewusst, wie einschneidend Armut in der Schweiz sei. «Es ist so einfach, abstrakt über Armut zu sprechen», kritisiert Sirmoglu. In dem Artikel den sie für das Magazin «Widerspruch» geschrieben haben, bemängeln Sirmoglu und Ditzler, dass den Betroffenen häufig die Schuld an ihrer Situation gegeben werde. Dabei ist Armut in der Schweiz schon lange kein Randphänomen mehr. Im Jahr 2015 waren rund 570 000 Personen oder 7 Prozent der Privathaushalte in der Schweiz von Armut betroffen.