Es ist Knochenarbeit

von Susanne Leuenberger 18. Januar 2023

Solothurner Filmtage II: «The DNA of Dignity» begleitet einen Knochensammler und Forensiker*innen, die das verscharrte Vermächtnis der Balkankriege ans Licht bringen. Der Dokfilm des Berner Filmemachers Jan Baumgartner läuft im Wettbewerbsprogramm der 58. Solothurner Filmtage.

Einen einfachen Ast in der Hand, durchstreift Ramiz Nukic den Wald und gräbt in der Erde nach Menschenknochen und Gegenständen, die in den 90er-Jahren eilig in Massengräbern verscharrt wurden. Der Knochensammler folgt seiner Intuition – und Hinweisen von oftmals anonymen Zeug*innen, die sich an Schauplätze der Massaker rund um das bosnische Srebrenica erinnern. Findet er Spuren, deckt er sie fast zärtlich mit etwas Erde und Laub wieder ab. Dann setzt er sich daneben auf einen Baumstamm, raucht eine Zigarette und wartet auf Unterstützung. Eine verspätete Totenwache.

Ein Plastikelefant

Dragana Vucetic wiederum ist Forensikerin und setzt die Knochenfunde, die lange unter der Erde lagen, in einer hellen Leichenhalle wieder zusammen. Es erinnert an Puzzlearbeit, wie sie die durcheinandergeratenen Überreste einzelnen Verstorbenen zuordnet. An Form und Zustand der Knochen liest Dragana Vucetic biografische Details der Menschen ab.

Es sollte nicht noch einmal ein Kriegsfilm werden. Mir geht es darum zu zeigen, wie die Verbrechen, die alle Seiten begingen, die Hinterbliebenen und die jeweiligen Gesellschaften bis heute verfolgen

Ein geheilter Oberschen­kelbruch ist so etwa Hinweis auf eine Krankheitsgeschichte – und ein Leben. DNA-Proben, die sie den Knochen entnimmt, werden anschliessend mit Blutproben Hinterbliebener abgeglichen, um die Toten zu identifizieren. Und ihnen damit eine Identität zurückzugeben. Oft helfen dabei auch ein Paar Turnschuhe, ein Plastikelefant oder andere persön­liche Gegenstände, die dem Zerfall unter der Erde trotzten.

Sammeln und Sortieren

40’000 Zivilpersonen verschwanden zwischen 1991 und 1999 im Zuge der Jugoslawienkriege. Ihre Leichen wurden nach den Verbrechen oft wieder ausgegraben und an neuen Stellen verscharrt, um die Rekonstruktion der Massenmorde zu erschweren. Die Leichenteile von bald 30’000 Toten konnten dank der Regierungen der verschiedenen Länder, Angehöriger und der International Commission on Missing Persons bis heute identifiziert werden. Die Überreste von 11’000 Menschen – oder anders gesagt: 2,2 Millionen Knochen – liegen noch irgendwo vergraben.

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Dies steht im Abspann von «The DNA of Dignity». Der 61-minütige Dokfilm des Berners Jan Baumgartner erzählt in nüchtern-aufgeräumten, von Kameramann Lukas Nicolaus ästhetisch komponierten Bildern von der geduldigen und beharrlichen Arbeit des Sammelns und Sortierens. Der Film kommentiert nicht, sondern fokussiert ganz auf die Knochenarbeit, die im Grunde Trauma- und Trauerarbeit ist. «Es sollte nicht noch einmal ein Kriegsfilm werden. Davon gibt es genug. Mir geht es eher darum zu zeigen, wie die Verbrechen, die alle Seiten begingen, die Hinterbliebenen und die jeweiligen Gesellschaften bis heute verfolgen», erklärt Baumgartner.

Ein Körper für das Grab

Die Mutter hat im Film weder Namen, Nationalität noch Religionszugehörigkeit. Und dies mit Grund. Jan Baumgartner versteht seinen Film selbst als Beitrag zur Erinnerungsarbeit. «The DNA of Dignity» soll auch an Filmfestivals in Belgrad, Sarajewo und Tirana gezeigt werden. «Ich hoffe, der Film ermutigt dazu, über die Vergangenheit zu reden, unabhängig davon, auf welcher Seite man damals stand. Sie ist nicht vorbei. Der Schmerz und die Wunden schwelen weiter.»

Doch vorerst läuft Jan Baumgartners Film im Wettbewerb der diesjährigen Solothurner Filmtage um den «Prix de Soleure». Es ist die erstaunliche Arbeit eines Autodidakten, der seit einem Schüleraustausch als 15-Jähriger mit dem Balkan verbunden ist. Nach seinem halbstündigen Dokfilm «Talking Soil» von 2018, für den er bosnische Minen-
entschärfer zwei Jahre lang begleitete, ist es der zweite, den er dem verscharrten Vermächtnis des Kriegs widmet.

Zwei Jahre filmen, zwei Jahre Schnitt

Den Film produzierte und finanzierte Jan Baumgartner, der zurzeit als ausgebildeter Pflegefachmann für die Spitex arbeitet, übrigens weitgehend selbst. Vier Jahre dauerte die Arbeit daran. Der befreundete Münchner Kameramann Lukas Nicolaus filmte über einen Zeitraum von zwei Jahren. Gemeinsam mit dem ebenfalls in München basierten Filmemacher Daniel Asadi Faezi arbeitete Baumgartner weitere zwei Jahre am Schnitt. Geld verdient habe er beim Filmen noch nie, meint er dazu. «Ich mache Filme, weil ich dabei Einblicke in Geschichten erhalte, die mir sonst nicht möglich wären. Und ich zeige die stille Arbeit von Menschen wie Dragana oder Ramiz.»

Der Knochensammler Ramiz Nukic verstarb im vergangenen November. Auch das ist im Abspann des Films zu lesen. Dank seiner Arbeit konnten an die 300 verschollene Menschen gefunden und identifiziert werden. Noch vor seinem Tod erfuhr er vom Fund der Überreste zweier seiner Brüder und seines Vaters in weit entfernten Massengräbern. Anders als er hatten sie die Flucht in die Wälder 1995 nicht überlebt.

Szenen aus dem Film «The DNA of Dignity» (Bilder: zvg).