Es gibt hier keine dauerhaften Sieger

von Christof Ramser 14. Juli 2021

Der Unterschied zwischen der Stadt- und der Landbevölkerung in der Schweiz ist gross. Professor Markus Freitag weiss, warum uns dies nicht beunruhigen muss.

Herr Freitag, wenn Sie in Ihrem Ort auf die Strasse gehen, grüsst man sich dort?
Markus Freitag: Ich lebe zwar in der Stadt, jedoch in einem Quartier mit viel gewachsener Struktur und einem Eigenleben. Ja, man grüsst sich hier. Grossgeworden bin ich in einem Ort im Schwarzwald mit rund 100 Einwohnern. Dort hat man sich natürlich ebenfalls gegrüsst. An beiden Orten gilt das Gesetz des Wiedersehens. Anders sieht es aus, wenn ich mein Quartier verlasse. Andernorts in der Stadt würden es die Leute kaum verstehen, wenn ich sie grüsse.

Das Gesetz des Wiedersehens schafft Verbundenheit?
Ja, gerade in unruhigen Zeiten sorgt eine abgrenzbare und überschaubare Umgebung dafür, dass man sich geborgen und sicher fühlt. Allerdings kann sich dies auch negativ auswirken. Wer die im Dorf gängigen Normen verletzt und eine abweichende Haltung hat, kann mit Sanktionen bestraft werden.

In der Stadt ist das Leben anonymer?
Es ist anonymer, aber auch weniger behütet und dadurch unverbindlicher. Ganz im Sinne des Bonmots: Stadtluft macht frei.

Wie unterscheiden sich die Menschen in der Stadt von denen auf dem Land?
Anhand einer Umfrage in einer meiner Studien liessen sich Persönlichkeitsprofile entwickeln: Jene, die sich dem Land zugehörig fühlen, deklarieren sich als eher weniger offen für Neues und Überraschendes. Auf der anderen Seite sind sie sehr gewissenhaft, zuverlässig, leistungsorientiert und pflichtbewusst. In der Stadt sind diese Eigenschaften entgegengesetzt.

Sind diese unterschiedlichen Identitäten ein Ausdruck des Stadt-Land-Grabens?
Der Stadt-Land-Graben zeichnet sich durch unterschiedliche persönliche Einstellungen und Abstimmungsverhalten aus, etwa gegenüber der EU, dem Wohlfahrtsstaat, der Armee oder der Gleichstellung der Frau. Da können klare Gegensätze zwischen einer Kernstadt wie Bern und einer Landgemeinde wie Riggisberg oder auch Langnau auftreten. Dazwischen gibt es aber einen Bereich, der in der Schweiz eine besondere und oft unterschätzte Rolle spielt …

… die viel zitierte Agglomeration. Was ist das eigentlich genau?
Die Agglomeration ist buntscheckig, vielfältig und kaum erforscht, obwohl dort 45 Prozent der Bevölkerung leben, also rund 3,8 Millionen Menschen. In den Kernstädten leben rund 30 Prozent und nur 15 Prozent auf dem Land. Hinzu kommen mehrfach orientierte Gemeinden wie zum Beispiel Seftigen oder Uetendorf. Sie lassen sich nur schwer in das Raster Stadt oder Land noch in die Agglo eingliedern.

Die Agglomeration ist buntscheckig, vielfältig und kaum erforscht, obwohl dort 45 Prozent der Bevölkerung leben.

Eine Gemeinde wie Rüeggisberg würden wohl alle als Dorf bezeichnen. Wie sieht es mit Wichtrach aus? Land oder Agglo?
In dieser Gemeinde würden sich die Menschen wohl zur Landbevölkerung zählen. Doch da wird es mit den Definitionen kompliziert. Gemäss Bundesamt für Statistik ist Wichtrach eine Agglomerationsgürtelgemeinde. Ebenso Kiesen, Uttigen oder Kirchdorf. Thun wiederum ist eine Kernstadt mit Steffisburg, Heimberg, Thierachern, Hilterfingen und Oberhofen als Agglomeration.

Gerade Gemeinden wie Belp oder Münsingen gehörten vor einigen Jahrzehnten kaum zur Agglo, sondern waren eher ländlich. Nicht zuletzt durch die ÖV-Anbindung an die Stadt sind sie stark gewachsen. Münsingen erhält den S-Bahn-Viertelstundentakt, in Belp ist er längst realisiert. Wie verändert dies die dörfliche Struktur?
Es kommt sehr auf die Tradition und die Grösse an. In einem kleinen Dorf ohne grosse Aktivitäten kann das Bevölkerungswachstum durchaus zu Umschichtungen und zum schleichenden Wandel der Gemeinschaft führen. Vorherrschende konservative Weltanschauungen werden herausgefordert oder geraten ins Hintertreffen. Grössere Gemeinden mit einem vielfältigeren Angebot sind besser gerüstet. Dort krempelt ein S-Bahn-Anschluss die Zusammensetzung der Bewohnenden nicht völlig um. Aber natürlich wird eine Gemeinde wie Münsingen durch den S-Bahn-Viertelstundentakt attraktiver für Menschen, die in der Stadt arbeiten, der Wohnraum dort für sie aber zu teuer geworden ist. Auf der anderen Seite konkurriert die Anbindung an die Stadt das dörfliche Leben und das Vereinswesen. Die Stadt ist ein Ort der Ablenkung, wo man viel erleben kann. Dies kann für das soziale Miteinander im Dorf schädlich sein.

Die Stadt ist ein Ort der Ablenkung. Eine Anbindung an die Stadt konkurriert mit dem dörflichen Leben und dem Vereinswesen.

Leidet darunter das zivile Engagement?
Das ist anzunehmen. Wer pendelt oder mehr Zeit in der Stadt verbringt, wird sich eher einer regelmässigen Verbindlichkeit in einem Verein entziehen. Auf dem Land gibt es verhältnismässig immer noch mehr Vereinsmitglieder als in der Stadt und der Agglo. Allerdings lässt das Vereinsengagement auf dem Land am stärksten nach.

Was bedeutet es, wenn weniger Menschen in Vereinen mitmachen oder sich ehrenamtlich in der Gemeinde engagieren?
Gerade das Vereinswesen gilt als Schule der Demokratie. Dort lernt man mit Menschen umzugehen, die nicht unbedingt so ticken wie man selbst. Dieses Einüben der Toleranz geht verlustig, je individueller unsere Lebensart wird. Und es kann mit Konsequenzen für die Wirtsleute im Dorf einhergehen. Geht der Chor nach der Probe nicht mehr etwas zusammen trinken, fehlt der Beiz eine wichtige Einnahmequelle. Und mit dem Beizensterben fehlen vermehrt Plätze, an denen man sich austauschen kann. Stark rückläufig ist auch die Bereitschaft zu politischen Ehrenämtern. Fehlt dazu das Personal, wird die Milizdemokratie brüchig.

Im Vorfeld des CO2-Gesetzes meldete sich ein Leser, der sich davor fürchtete, als Landbewohner von der rot-grünen Stadt überstimmt zu werden. Bekanntlich haben sich die Städte bei dieser Abstimmung nicht durchgesetzt. Anders beim Jagdgesetz, wo die Städte dem Land den Wolfsschutz diktiert haben. Ist die Sorge des Landes vor der allmächtigen Stadt gerechtfertigt?
Der Leser drückt ein Gefühl der Benachteiligung aus. Er fühlt sich im Vergleich zu den Städtern zurückgestellt. In der Schweiz beobachten wir vor allem das Gefühl einer kulturellen Benachteiligung der Landbevölkerung. Also den Eindruck, dass die eigenen Traditionen, Lebensweisen und Werte nicht ernst genommen werden. Für die Landbewohner ist die Natur ein Lebens- und Ernährungsraum. Für die Städter ist es hauptsächlich ein Erlebnisraum. In Ländern wie Frankreich oder den USA fühlt sich die Landbevölkerung nicht nur kulturell, sondern zusätzlich auch politisch und wirtschaftlich abgehängt. Dies beobachten wir in der Schweiz weniger, da wir vorbeugende Instrumente wie das Ständemehr oder den interkantonalen Finanzausgleich kennen.

Für die Landbewohner ist die Natur ein Lebens- und Ernährungsraum. Für die Städter ist es hauptsächlich ein Erlebnisraum.

Wie kann der Austausch zwischen Stadt und Land gefördert werden?
Dafür gibt es kein Patentrezept. Wichtig ist, dass die Unterschiede in der Öffentlichkeit diskutiert werden, dass die Medien darüber berichten und die Debatte aufrechterhalten. Den Austausch fördern können auch Organisationen wie der Städte- oder der Gemeindeverband. Dazu hilft es, Toleranz zu leben und Kompromisse zu suchen.

Indem man eine andere Perspektive einnimmt?
Sie können sich überlegen, ob die Argumente der Gegenseite nicht vielleicht auch richtig sein können, zumindest teilweise. Polarisierung allein muss nicht immer systemdestabilisierend wirken. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn zur Polarisierung noch eine Moralisierung kommt und die eigenen Werte überhöht werden.

Seit einem halben Jahr untersuchen Sie den Stadt-Land-Graben und forschen an möglichen Lösungswegen, um diesen zu überwinden. Haben Sie schon einen Vorschlag?
Zuerst einmal: Dieser Graben kann Konflikte offenlegen und bietet damit auch die Chance, neue Ideen und Lösungen zu entwickeln. In der Schweiz ist dieser Graben durchaus vorhanden. Bei manchen Themen mehr, bei anderen weniger. Doch wir wissen zum Vornherein nie, wer der Sieger ist. Beim Jagdgesetz hat das Land verloren. Ein halbes Jahr später hat es das CO-Gesetz gekippt und gewonnen. Dass es keine dauerhaften Sieger und Verlierer gibt, ist ein Pluspunkt des Schweizer Systems und trägt zur Stabilität bei. Es wäre verheerend, wenn dies nicht so wäre.

Die direkte Demokratie als Stabilisator?
Ja, zusätzlich zum Schweizer Bildungssystem und unserem Wohlstand verhindert sie, dass der Stadt-Land-Graben unterdrückt und allzu explosiv wird.

Dieses Interview erschien ursprünglich im Berner Landboten, 14.07.2021