«Es geht darum, dass die Leute wieder selbständig werden»

von Rita Jost 1. Mai 2019

Ein Büro im Städtischen Sozialamt. Zwei Frauen sitzen sich gegenüber, sie sind fast gleich alt: Patricia Leu, Sozialarbeiterin und Madeleine K*, Sozialhilfeempfängerin. Auf dem Tisch zwischen ihnen liegt ein Dossier – und in der Luft hängt eine gute Nachricht.

«Die Invalidenversicherung hat entschieden: sie werden eine Rente bekommen.» Die blasse 29-jährige Frau im hellgrauen Trainingsanzug, die bisher eher unbeteiligt gewirkt hat, strahlt nun plötzlich doch ein wenig. Auf diese Nachricht hat sie drei Jahre lang gewartet. Drei Jahre war sie ein Sozialfall. Nun wird sie IV-Bezügerin. Was heisst das für sie? Madeleine K. denkt lange nach: «Weniger Stress», sagt sie dann, «die Ungewissheit hat mich nervös gemacht.»

Krankheit, Krisen, Klinik

Madeleine K. ist seit Jahren ohne Arbeit. Ihre Ausbildung als Fachangestellte Gesundheit, FaGe, hat sie nie abgeschlossen. Ein traumatisches Ereignis, über das sie nicht näher sprechen möchte, hat sie in eine Depression gestürzt. Krankheit, zwei Operationen, Arbeitsverlust waren die Folgen. «Und dann kommt bei mir noch ein Borderlinesyndrom dazu», meint sie ganz sachlich. Das ist der medizinische Befund. Die Folgen davon sind allgegenwärtig. Sie habe Mühe, mit Alltäglichem zurecht zu kommen, finde kaum Kontakt zu anderen Menschen, könne nicht länger als drei Stunden einer Arbeit nachgehen. Und auch das nicht täglich. Seit einiger Zeit sei sie nun in einem Ambulatorium. Dort könne sie mit Papier arbeiten. Unter ihresgleichen. Das gefalle ihr. «Aber es geht halt nicht immer», murmelt sie. Immerhin sei es besser als in der Tagesklinik. Später wird sie allerdings sagen, gesundheitlich gehe es ihr schlechter, seit sie nicht mehr in die Tagesklinik gehe. Sie ist untergewichtig, aber es war auch schon schlimmer. 20 Kilo hat sie nach dem «schlimmen Vorfall» verloren.

80 Dossiers

Patricia Leu betreut Madeleine K. seit 2016. Sie hat mit ihr Höhen und Tiefen erlebt. K. ist eine von 80 «KlientInnen», die Leu mit ihrem 80-Prozentpensum betreut. «Ja, das ist viel. Diese hohe Dossierzahl pro Mitarbeiterin ist ein Stressfaktor in diesem Job.» Aber die Stelle sei trotzdem interessant. Die Arbeit im Team sei gut. Sie habe es bisher nie bereut, dass sie nach der Wirtschaftsmittelschule noch Sozialarbeiterin geworden sei.

Ihre Klienten sieht sie durchschnittlich ca. zwei- bis achtmal pro Jahr. Da gehe es um Kontrollfunktionen, Administration. Zielvereinbarungen und Kontoauszüge müssen kontrolliert werden, Sozialhilfebezüger dürfen nicht mehr als 4000.– Vermögen besitzen. Da muss die Frau vom Amt Fragen stellen, beraten, kontrollieren. Und oft auch ablehnen. Nicht alles, was die Klienten bezahlt haben möchten, kann Patricia Leu bewilligen. Die sogenannten «situationsbedingten Leistungen» (Auslagen für Anschaffungen, Therapien, Ausbildungen) sind genau definiert. Auslagen für Hobbys und Vergnügen liegen bei Erwachsenen nicht drin. Bei Kindern ist das Sozialamt grosszügiger. Für Kinder und Jugendliche, die im Kanton Bern ein Drittel der rund 47 000 unterstützen Personen ausmachen, gibt es in der Regel leichter Zuschüsse, beispielsweise an Jahresbeiträge für Sportvereine.

Was heisst «situationsbedingt»?

Wann setzt sich Patricia Leu auch bei Erwachsenen für «situationsbedingte Leistungen» ein? «Wenn ich sehe, dass es den Leuten hilft, wenn es für die Zukunft sinnvoll ist. Also beispielsweise bei einer Anschaffung, die nötig ist, damit der Klient sein Leben wieder in den Griff bekommt.» Ein Auto gehört da normalerweise nicht dazu. Aber eine Ausbildung. «Es geht ja darum, dass die Leute wieder selbständiger werden», erklärt Patricia Leu. Hat sie da nicht oft einfach Mitleid mit den Leuten? Patricia Leu schüttelt den Kopf: «Nein, das wäre unprofessionell.» Mitgefühl, das ja, aber ansonsten müsse sie ja darauf achten, dass die Leute möglichst schnell wieder selbständig werden. Ihr Leben wieder in den Griff bekommen. Das bedeute, dass man ihnen Verantwortung übertrage.

Madeleine K. versucht, diese Verantwortung zu übernehmen. Es wird nicht einfach sein. Obwohl sie bald nicht mehr vom Sozialhilfegrundbetrag von rund 977.– leben muss, sondern eine IV-Rente und damit etwas mehr Geld bekommt. Die IV-Rente wird sie selbständig einteilen und verwalten müssen. Für das Sozialamt bedeutet die «Ablösung» durch die IV, dass Madeleines Akte bald geschlossen werden kann. Und dass die IV dem Sozialamt rückwirkend die Beträge vergüten muss, die das Sozialamt drei Jahre lang vorgeschossen hat.

Eine Zukunft ohne Unterstützung?

Patricia Leu wird K. bald nicht mehr in ihr Büro bestellen. Aber gleich wird ihr ein neuer Klient/eine neue Klientin zugeteilt. Ob Madeleine K. ihre Ausbildung als FaGe doch noch abschliessen wird, wie sie es sich immer noch wünscht, das steht in den Sternen. «In einem Altersheim arbeiten, das täte mir gut. Die Leute dort sind nicht einfach, ich bins auch nicht, das könnte gut gehen», meint sie. Und es tönt, als ob sie diesen Satz schon öfter für sich geübt hätte.