Es braucht mehr

von Christoph Reichenau 29. Oktober 2022

Kommentar Die Missbrauchsfälle bei Bühnen Bern zeigen, dass der Verhaltenskodex nicht reicht. Nun muss sich strukturell etwas ändern, findet unser Autor.

Worum geht es im Kern? Es geht darum, die Tänzer*innen zu schützen vor sexueller Belästigung und Machtmissbrauch. Beides soll verhindert werden und wird, wenn dennoch geschehen, nicht toleriert. Der Sinn ist klar: Es darf nicht passieren. Da reicht Papier nicht.

Es braucht ein Arbeitsklima, das Belästigung nicht zulässt: Kollegialität, offene Türen der Vorgesetzten, Interesse der Vorgesetzten am Wohlergehen der Mitarbeitenden, regelmässiges Nachfragen, offene Diskussionen oder – auf Wunsch – Gespräche unter vier Augen.

Und es braucht Arbeitsbedingungen, die dagegenwirken: Partizipation, flache Hierarchie, geringe Lohnunterschiede, eine angemessene Sicherheit vor Kündigung, soziale Sicherheit, Sorgfalt bei unumgänglichen Kündigungen seitens der Institution.

Es braucht organisatorische, strukturelle und lohnbezogene Anpassungen.

Für mich bedeutet dies: Mit einer Bestimmung im Leistungsvertrag und noch so gut gemeinten Regeln im Verhaltenskodex und Anstrengungen bei dessen Umsetzung ist es nicht getan. Es braucht organisatorische, strukturelle und, ja, lohnbezogene Anpassungen, um den Status der Tänzerinnen und Tänzer so anzuheben, dass das Machtgefälle verringert und die Tanzenden sozial weniger verletzlich sind. Der Berufsverband Danse Suisse mit den Erfahrungen in der Ausbildung und dem Code of Conduct könnte dabei hilfreich sein.

Wer kategorisch verlangt «Der Belästiger muss weg!» und sonst alles lassen will, wie es ist, macht es sich einfach. Wenn man bei verbaler sexueller Belästigung jegliche zweite Chance wegbedingt, erhöht man nicht a priori den Schutz der Tänzer*innen, man beseitigt lediglich eine Person, die belästigt hat. Indem man dieser klar aufzeigt, dass ihr Verhalten unannehmbar war, doch keine Entlassung rechtfertigt, erreicht man möglicherweise mehr. Es kommt, wie überall, auf die konkreten Umstände an. Diese unvoreingenommen genau zu ermitteln, ist entscheidend. Und wichtig erscheint, von Fall zu Fall unter Ansehen der Person Schlüsse zu ziehen. Die Haltung, wer sich einmal verfehlt, wird es wieder tun, mag Entschiedenheit suggerieren, verrät aber bloss Schematismus.

Was also tun? Drei Dinge kann man erwägen:

  • Im Leistungsvertrag wird der Ausdruck «sexuelle Belästigung» ergänzt durch «Machtmissbrauch». Und es wird geregelt, dass bei entsprechenden Vorfällen die Subventionsbehörden sofort zu informieren sind.
  • Im Verhaltenskodex von Bühnen Bern wird das Vorgehen bei Machtmissbrauch einschliesslich sexueller Belästigung genau festgelegt.
  •  Bühnen Bern erhöht die Löhne der Tänzer*innen und festigt ihre Stellung zum Beispiel indem sie bei der Wahl der Probenleiter*innen mitbestimmen dürfen.

Dies alles verhindert Missbrauch nicht zwingend. Aber es erschwert ihn erheblich.