Es braucht das Archiv für Agrargeschichte!

von Fredi Lerch 28. April 2017

Das Archiv für Agrargeschichte in Bern ist kein Hobby von Sonderlingen. Es widmet sich jener Geschichtsschreibung, die immer neu die Frage zu beantworten versucht: Wie kommt das Essen auf den Tisch? – AfA-Leiter Peter Moser erzählt.

«Die Frage ist: Wie gehen eigentlich Industriegesellschaften – oder später Konsumgesellschaften, die alles andere als postindustriell sind – mit dem Agrarischen um? Was wissen sie noch über einen Bereich, der im Produktionsprozess seine Grundlagen immer wieder herstellen könnte, wenn die Rahmenbedingungen dazu stimmen würden? Das bleibt auch im 21. Jahrhundert die zentrale Frage, obwohl wir in der westlichen Welt zurzeit davon ausgehen, dass sie gelöst sei. Doch nur weil wir kaufkräftig genug sind, um uns weltweit jederzeit mit Nahrungsmitteln einzudecken, heisst das noch lange nicht, dass die Ernährungsfrage gelöst ist.

«Nur weil wir kaufkräftig genug sind, um uns weltweit mit Nahrungsmitteln einzudecken, heisst das noch nicht, dass die Ernährungsfrage gelöst ist.»

Peter Moser

Hier hat das Archiv für Agrargeschichte neben dem Archiv- und Forschungsbereich meines Erachtens auch eine wichtige gesellschaftliche Funktion: Es ist ein Ort der Wissenschaft – also eine Institution, in der Wissen geschaffen wird, das den Menschen ermöglicht, im Ernährungsbereich nicht nur eine eigene Meinung zu haben, sondern sich auch selbst eine zu bilden.

Dazu eignet sich das Agrarische als historischer Verlierer besonders gut. Denn in der Regel stellen die historischen Verlierer die interessanteren Fragen als die Sieger. Zwar verfügen auch die Verlierer nicht über die Wahrheit. Aber im Gegensatz zu den Siegern sind sie immer wieder gezwungen, nach Alternativen zu suchen. Deshalb lohnt es sich auch, die Argumente der bäuerlichen Bevölkerung zur Kenntnis zu nehmen. Zwar würde ich nicht sagen, dass die bäuerliche Bevölkerung im 20. Jahrhundert samt und sonders zu den historischen Verlierern gehört. Aber das Agrarische in einem umfassenden Sinne verstanden ist in dieser Zeit fast vollständig aus dem Bewusstsein der Industriegesellschaften verschwunden. In der englischen Sprache gibt es bezeichnenderweise für viele agrarische Phänomene gar keine präzisen Begriffe mehr – ein «peasant» ist etwas anderes als ein «Bauer» und dieser nicht das gleiche wie ein «farmer».

Spannend ist nun, dass das Agrarische zwar zu den historischen Verlierern gehört, gleichzeitig aber wie kaum etwas anderes zukunftsträchtig ist. Das macht es zu einem so interessanten wie relevanten Untersuchungsgegenstand. Denn nur das Agrarische kann im Produktionsprozess seine materiellen Grundlagen laufend erneuern: Eine Kuh gibt dann Milch, wenn sie ein Kalb geboren hat. Gleichzeitig unterliegt die Nutzung von Tieren und Pflanzen aber auch engeren Wachstumsgrenzen – im Winter liegt der Boden brach – als der Verbrauch von Kohle und Erdöl, der kontinuierlich, rund um die Uhr und das ganze Jahr erfolgen kann. Mit anderen Worten: Die Landwirtschaft kann nachhaltig produzieren, die Industrie hingegen effizient verbrauchen. Dafür hat schon Eduard David in der Debatte mit Karl Kautsky einen klaren Blick entwickelt, den wir leider wieder verloren haben.

«Die Landwirtschaft kann nachhaltig produzieren, die Industrie hingegen effizient verbrauchen.»

Peter Moser

Die Versuche der Industriegesellschaften, ihre Agrarsektoren nach dem Vorbild der Industrie zu modellieren, setzen bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Damit entstand die Agrarfrage – und der bis heute anhaltende Wille, die Landwirtschaft radikal anders zu denken (und zu machen) als sie ist. Auf den Punkt gebracht hat diese Bestrebungen der Schaffhauser Regierungsrat Zacharias Gysel, selbst ein Bauer, als er 1854 das legendäre Buch schrieb: «Der Schaffhauser Bauer, wie er sein sollte, und wie er nicht ist, wie er ist, und wie er nicht sein sollte».  

Doch die Bestrebungen zur Industrialisierung des Agrarischen scheiterten immer wieder von neuen, respektive sie nahmen Formen an, die die Leute auf dem Land wie in der Stadt immer wieder irritierten. So erwies sich die Dampfmaschine im agrarischen Produktionsprozess als Fehlschlag. Sie war zwar stark, aber viel zu wenig beweglich. Im Gegensatz zur Industrie wuchs in der Landwirtschaft von der Mitte des 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts deshalb die Zahl der Zugtiere, also der Pferde und Kühe, nicht der Motoren. Dafür galten bei der Entwicklung der Traktoren die Pferde bis in die 1950er Jahre als Vorbilder. Dieser Wissensaustausch zwischen Industrie und Landwirtschaft manifestierte sich auch auf der Ebene der Sprache: Den Traktor nannte man lange «Überpferd» und Pferde «organische Motoren».

«Zur Klärung der Interaktionen zwischen Landwirtschaft und Industrie haben wir das Konzept der agrarisch-industriellen Wissensgesellschaft entwickelt.»

Peter Moser

Zur Analyse dieser spannenden, aber auch spannungs- und konfliktreichen Interaktionsprozesses haben wir im AfA das Konzept der agrarisch-industriellen Wissensgesellschaft entwickelt. Diese zeichnete sich dadurch aus, dass sie das Industrielle vor Augen hatte, in der Praxis jedoch auf die agrarischen Eigenheiten Rücksicht nahm. Dadurch entstanden komplexe, sozial und ökologisch äusserst vielfältige und interessante Verhältnisse, die aber alles andere als egalitär oder gar gerecht waren. Von dieser gegenseitigen Beeinflussung und sozialen Ungerechtigkeit geprägt war auch die Agrarpolitik der Industriegesellschaften. Sie nahm einerseits Rücksicht auf agrarische Eigenheiten wie die Saisonalität der Produktion, förderte aber gleichzeitig den erbarmungslosen Verdrängungskampf innerhalb der Landwirtschaft.

Als in den 1950er, -60er Jahren mit der Motorisierung und Chemisierung der Nahrungsmittelproduktion ein neuer Schub zur Industrialisierung der Landwirtschaft stattfand, begannen Agrarökonomen davon auszugehen, dass es gar keine grundlegenden Unterschiede zwischen Industrie und Landwirtschaft mehr gebe. Diese Annahme war eine Grundvoraussetzung dafür, das Agrarische im Rahmen des nun zunehmend dominierenden ökonomischen Theoriegebäudes überhaupt vermessen zu können. Denn die neoklassische Theorie interessiert sich nicht für die Produktion und Reproduktion lebender Organismen, sondern lediglich für die Verarbeitung und den Handel von Gütern und Dienstleistungen.

Erst die Negation der grundlegenden Eigenheiten der Agrikultur führte dazu, dass das, was man nun als das Agrarische wahrnahm, vollständig in Zahlen ausgedrückt werden konnte. Damit verschwand aber ein wesentlicher Teil der bäuerlichen Realität aus dem Blickfeld der Industriegesellschaft. Denn mit dem Sieg der Zahlen über die Sprache als Mittel zur Kommunikation des Agrarischen gingen dessen Eigenheiten buchstäblich verloren. Darauf hat die amerikanische Historikerin Deborah Fitzgerald vom Massachusetts Institut of Technology hingewiesen, mit der zusammen wir im Moment ein Forschungsprojekt zur Arbeit im Agrar- und Industriebereich durchführen. [vgl. «Forschungsprojekt Semantiken agrarischer und industrieller Arbeit»]        

«Mit dem Sieg der Zahlen über die Sprache für die Kommunikation des Agrarischen gingen dessen Eigenheiten buchstäblich verloren.»

Peter Moser

Diese Einebnung der Unterschiede auf der Ebene des Wissens resp. Unwissens hatte kaum zu überschätzende Folgen. Wenn seither danach gefragt wird, weshalb die Landwirtschaft politisch anders reguliert wird als die Industrie, wissen auch Agronomen und Vertreter der landwirtschaftlichen Verbände in der Regel keine intelligentere Antwort mehr als diejenige, die Medien, Linke, Konservative und Liberale seit Jahrzehnten unisono gebetsmühlenartig repetieren: Weil die Bauern politisch erfolgreich seien und sich auf Kosten der Gesellschaft Subventionen und andere Privilegien zuschanzten.

Wie jeder Mythos beinhaltet natürlich auch dieses Narrativ ein Körnchen Realität. Auch in der Landwirtschaft gibt es Privilegierte. Doch im Kern geht dieses inflationär betriebene, ressentimentgeladene Reden über das Agrarische an der Realität vorbei. Es ist auch mehr als nur ein historiografisches Ärgernis. Denn es wirkt politisch destruktiv und fördert jene zynische Wahrnehmung des Agrarischen, die sich in den Online-Kommentaren beinahe täglich manifestiert. Wenn Frost, Hagel und Unwetter die Kulturen zerstören, fragen viele Kommentatoren in den ‘sozialen’ Medien heute bezeichnenderweise nicht mehr nach den allfälligen Folgen für ihre Ernährung, sondern enervieren sich lautstark, rechthaberisch und ignorant darüber, dass die betroffenen Bauern und Bäuerinnen nun angeblich Subventionen erhielten, ohne im Verlauf des Jahres weitere Arbeit leisten zu müssen.

In diesem Sinne hat das AfA meiner Einschätzung nach zusätzlich zu seiner zentralen Funktion in der Überlieferungssicherung und der historischen Forschung auch eine eminent politische Bedeutung: Hier wird Wissen geschaffen, das junge, interessierte Leute dazu ermächtigt, selbstständig über die historische und gesellschaftliche Bedingtheit der Ernährung und die Nutzung lebender Ressourcen nachzudenken und Handlungsstrategien zu entwerfen. Das ist etwas ganz anderes als über «Ökologie» als Gut zu reden, das man kaufen oder verordnen kann und sich damit zufrieden zu geben, dass sich die negativen Folgen des ökonomischen Drucks auf die Nahrungsmittelproduktion zunehmend ausserhalb der Schweizergrenzen abspielen.

«Im AfA wird Wissen geschaffen, das interessierte Leute dazu ermächtigt, über Ernährung nachzudenken und Strategien zum Handeln zu entwerfen.»

Peter Moser

Vor genau hundert Jahren, 1917/18, führte die Nahrungsmittelverknappung in der Schweiz zu heftigen politischen Auseinandersetzungen zwischen urbanen und landwirtschaftlichen Kreisen. Das ist allgemein bekannt. Dass aber gleichzeitig auch neue, zukunftsträchtige Formen der Kooperation zwischen Bäuerinnen vom Land und Konsumenten in der Stadt entstanden, ging im Verlaufe des 20. Jahrhunderts sowohl in agrarischen als auch in linken und liberalen Kreisen vollständig vergessen. Auch in der Geschichtsschreibung waren diese sozialutopischen Experimente kein Thema – bis sie im AfA thematisiert worden sind. Wer erinnert sich heute zum Beispiel noch an die ab Herbst 1918 von Max Kleiber geleitete landwirtschaftliche Kommune «Alte Vogtei» in Herrliberg? [vgl. Juri Auderset/Peter Moser: «Die Ernährungskrise von 1917/18 als agrarpolitische ‘Lehrmeisterin’» sowie Peter Moser: «Kein umstrittenes Thema mehr? Die Ernährungsfrage im Landestreik 1918»)].

Das AfA braucht nicht Geld von der öffentlichen Hand, weil man hier die Lösungen kennen und konservieren würde, sondern weil wir hier kontinuierlich danach fragen und Interessierten unentgeltlich Informationen und Wissen zur Verfügung stellen, damit sie sich eine eigene Meinung bilden können.»