Ephemere Werke und sozionautische Trips

von Fredi Lerch 31. März 2015

Eine Stadt ist die normative Kraft des Faktischen, an die sich die Normalen halten. Kunst im öffentlichen Raum stellt diese Kraft in Frage. Aber wie? – «StadtPhantasien»: Die Debatte des zweiten «Café public».

Im ehemaligen Kakao-Lagerhaus der Chocolat Tobler AG an der Güterstrasse 8 plant die Wohnbaugenossenschaft «Warmbächli» eine Stadtphantasie: gemeinnützigen Raum für innovative Lebensformen. Zweifellos war der ehemalige Industriebau, der zurzeit zwischengenutzt wird, ein guter Rahmen für das zweite Café public des Projekts «Le bruit qui court», das dem Thema «StadtPhantasien» gewidmet war. Als Moderatorin diskutierte die Kunstwissenschaftlerin Isabel Zürcher mit drei Kunstschaffenden, die den öffentlichen Raum im Auge haben, wenn sie arbeiten.

Vorübergehende Bewussteinserweiterungen

Die Künstlerin Muda Mathis hat den Audio-Walk «Der Elefant ist da» co-kuratiert: Noch bis zum Oktober 2015 kann man sich in der Kunsthalle oder im Institut für Medienbildung einen Kopfhörer ausleihen und spazierend mit einem unterhaltenden Hörspiel im Ohr Neugestaltungen des Helvetiaplatzes vorzustellen versuchen, die zehn KünstlerInnen entworfen haben.

Angefragt worden sei sie «als ephemer Arbeitende», sagt Mathis. «Der Elefant ist da» sei ein Projekt, das gegen das mehr als hundertjährige Welttelegrafendenkmal «ephemere», also vergängliche Werke stelle. «Unsere Frage war: Kann man im städtischen Raum heute noch neue, grosse, repräsentative Skulpturen hinstellen? Oder soll Kunst nur noch auftauchend und verschwindend, erlebnis- und kommunikationsbezogen agieren und nichts mehr schaffen, was bleibt? Darauf versucht ‘Der Elefant ist da’ zu antworten.»

Die Performerin Miko Hucko ist Mitglied des «Social Space Agency»-Kollektivs (SoSa), das den öffentlichen Raum gleichermassen als künstlerische und als soziale Baustelle versteht. «So wie die Nasa mit ihren Astronauten den Weltraum erforscht, erforscht SoSa als Sozionauten den sozialen Raum», sagt sie: «Unser Ziel ist es, neue Verhaltensweisen zu ermöglichen. In den Städten kann man in Geschäften und Restaurants konsumieren, und daneben gibt es den weniger definierten öffentlichen Raum, in dem noch etwas passieren kann. Allerdings verhalten sich die Leute auch dort zumeist in den vorgegebenen Bahnen, sozusagen als Opfer ihres Alltags.» Darum biete SoSa Techniken an, die es erlaubten, Wahrnehmungen zu machen, «die ausserhalb des Normalen» seien.

Hucko nennt zwei solche Techniken: «Conceptual Filter» ist der Versuch, die Welt unter der Perspektive eines bestimmten Begriffs zu sehen und so durch die Stadt zu gehen: «Angenommen, ich gehe von einem gelben Gegenstand zum nächsten gelben Gegenstand, so nehme ich ein anderes Bewegungsmuster an, als ich es gewöhnlich habe.» Unter «History of Now» versteht sie den Versuch, sich die Gegenwart aus der Perspektive zum Beispiel des Jahres 2035 oder 2115 vorzustellen. «Stellt euch vor, wie zum Beispiel dieser Anlass hier aus einer solchen Perspektive aussehen würde.»

Ronny Hardliz schliesslich – sein Beitrag für die Journal B-Kunst-Staffette vom August 2014  findet sich hier – arbeitet an der Schnittstelle Architektur und Kunst. Ein wichtiger Aspekt seiner Arbeit sei der, den Leuten die Möglichkeit von «Grenzerfahrungen» zu ermöglichen.

Konkret erwähnt er das Loch, das er mit Hammer und Pickel mitten auf dem Bahnhofplatz Bern gegraben hat: «Einerseits war das eine Grenzüberschreitung, ein Bruch mit den Konventionen, andererseits aber etwas sehr Bürgerliches: Ich als Bürger brauchte den öffentlichen Raum.» Die Reaktionen des Publikums seien unterschiedlich gewesen: «Zum einen Distanzierung im Sinn von ‘Aha, Kunst’; andererseits Empathie, die Einsicht, dass es zwischen öffentlichem Raum und individueller Person tatsächlich eine Verbindung gibt.» Natürlich habe er das Loch danach wieder zugeschüttet, wobei sich – das schreibt er auf seiner Homepage zum Projekt «Das Loch II» – «das Volumen des ausgehobenen Materials vergrössert und somit beim Füllen des Lochs ein kleiner Hügel entsteht», was zeige, «dass auch eine scheinbar sinnlose Handlung eine durchaus sichtbare Wirkung haben kann – was man auch als Metapher auf die Kunst interpretieren könnte».

Bis wohin reicht Kunst?

Am Anfang des Gesprächs, das sich aus diesen drei Positionsbezügen ergab, stand die Frage, ob für die angesprochenen Projekte «das Format der Kunst das Richtige oder das Einzige» sei. Hardliz: «Als Architekt muss ich sagen: Das Format der Kunst ist produktiv und faszinierend; anderes Publikum, andere Tempi, anderer Fokus. Man kann einzelne Aspekte herausgreifen und fast wissenschaftlich, experimentell behandeln.» Weniger wichtig sei ihm, ob solche Projekte unter dem Begriff «Kunst» diskutiert würden. Was ihn interessiere sei «die Spur», die noch das ephemerstes Werk in der Erinnerung hinterlasse: «Keine Handlung ist spurlos. Zum Beispiel der Elefant auf dem Helvetiaplatz: Wenn ich von jetzt an dort vorbeigehe, werde ich diesen Elefanten immer sehen.»

Für Hucko ist das «Format Kunst» eher ein Problem als ein Ziel: Der Alltag bestehe ja zumeist aus einer fest definierten Abfolge von Handlungsabläufen, die man befolge: «Wenn ich davon abweiche, werde ich schnell entweder als irr oder als Künstlerin angesehen.» Zwar seien heute alle gefordert, sich «kreativ auszuleben» – aber eben bitte bloss innerhalb der Kunst. Für sie sei das ein Widerspruch: Man solle zwar kreativ sein, aber nicht mit den geltenden Normen, Regeln und Verhaltensweisen, sondern bloss im Sandkasten der «Kunst». Es gehe aber darum, die Kreativität im öffentlichen Raum anzuwenden, den man sich zwar als frei denke, der aber alles andere als ein «Freiraum» sei.

Hier fragte die Moderatorin: «Wann ist denn eine temporäre, allenfalls auch unsichtbare Aktion gelungen?» Jede Aktion, antwortete Mathis, sei ein Angebot. Das Höchste der Kunst, auch von unsichtbaren Aktionen sei es, Menschen zu neuen Wahrnehmungsmöglichkeiten einzuladen: «Wenn das gelingt, ist das super.» Ein Problem, der für sie zunehmend wichtig wird, ist jenes, dass Erinnerung als Spur einer Intervention verwittert: «Erinnerung geht vergessen und ist trügerisch. Die Präzision verliert sich. Und wenn man sich nicht präzis erinnert, beginnt man sich auf lästige Art zu wiederholen.» Um die Nuancen des Flüchtigen zu konservieren, plädiert sie für ein «Museum für ephemere Kunst».

Der Fortgang der Diskussion zeigte: Sicher müsste dieses Museum auch eine Abteilung für nicht realisierte Projekte haben – für all das, was in der Öffentlichkeit nicht einmal ephemer auftaucht. Denn immer mehr erschöpfe sich Kunstproduktion in Projektvorschlägen für Wettbewerbe. Und mehr als um die Realisierung von Werken gehe es unterdessen um die Arbeit am eigenen Profil. Auch Kunstschaffende sind heute, heisst das, neoliberale Ich-AG’s, die versuchen, im Spiel zu bleiben. Vor mehr als hundert Jahren hat Rainer Maria Rilke geschrieben: «Die grossen Worte aus den Zeiten, da / Geschehn noch sichtbar war, sind nicht für uns. / Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.»