Entlang der Grenzen der Länggasse

von Sarah King 16. September 2014

Es dauert länger, die Ränder des eigenen Quartiers abzuwandern, als ein Weltmeer zu überfliegen. Eine Grenzerfahrung im Länggass-Felsenau-Quartier in vier Etappen.

Die Aare präsentiert sich um 17.30 Uhr still wie der Abspann der Augsburger Puppenkiste: Steine, Wasser, leises Plätschern. Das sagt Adrian beim Seftausteg, dort wo der Fluss in den Turbinen zum Strom wird, bevor er weiterzieht Richtung Meer. «Oder war es nicht der Abspann? Und nicht die Puppenkiste?» Eigentlich sagt das Adrian nicht, er denkt nur laut. Setzen Grenzen Gedanken frei wie einst die Puppenkiste Marionetten?

«Seine Gezeiten und Ufer bestimmen unsere Bewegungen und unsere Grenzen.»

Philip Hoare, «Leviathan oder der Wal»

Während sich Adrian in seine Überlegungen vertieft, lockt der Holundergeruch flussaufwärts. Eine blaue «Ente» am Strandweg mit Fahrschild Appenzell Innerrhoden hebt sich von roten Felsenau-Bierharassen ab, zwei Jungs mit Käppi chillen auf den Steinen.

Davon merkt Andrea nichts. Die Philosophin vertieft sich am Flussufer in die Kunst des Liebens. Sie macht ein Eselsohr auf Seite 38: «Die Liebe des Menschen», so schreibt Erich Fromm dort, «ist eine aktive Kraft, die die Mauern durchbricht, durch die der Mensch von seinen Mitmenschen getrennt ist, und die ihn mit den anderen vereint.» Andrea weiss: «Das Fliessen der Aare hilft, um Dinge loszulassen.» Liebe Aare, erlöse das Gefühl der Liebe vom Eselsohr.

Bogenschütze Nader

Die Wanderung geht weiter und lehrt: «Nein, nein, wer ins Schwarze trifft, liegt weit daneben. Das Gelbe ist die Mitte.» Fachkundige Worte von Bogenschütze Nader. Sein Schützling macht es vor: Den Pfeil spannen, ein zischendes Geräusch und … für Wilhelm Tells Bube wäre das Resultat eine Grenzerfahrung. Nader hat Geduld. Er hat viele Grenzen überwunden. Von Baghdad nach Genf nach Bern, vom Bodyguard zum Bogenschützen an der Quartiergrenze.

Wo die Grenze genau liegt, weiss die amtliche Vermessung der Stadt Bern: «In der Mitte der Aare, unter Wasser.» Dort unten also, wo die Welt in dumpfen Tönen erklingt. Wie bei Peschä: Er sitzt auf einem Felsbrocken wie eine gestrandete Meerjungfrau und trägt Kopfhörer auf den Ohren. Er hört «nichts. Gar nichts. Die Musik stoppte irgendwann und ich vergass die Kopfhörer abzulegen.» Das also macht die Aare mit den Menschen: Sie lässt vergessen.

Roger aus dem Emmental

Aber auch erinnern: Roger aus dem Emmental zeigt auf die kleine Bremgarten-Kirche auf der anderen Flussseite. «Dort heirateten meine Eltern.» Er fühle sich auf diesem Wanderweg wie Robinson im Amazonas. «Voll im Saft.» Hand in Hand schlendert er mit Marianne weiter aareabwärts. Machs gut, Robinson. In die andere Richtung wartet das Zehndermätteli mit griechischem Salat und etwas weiter des Weges die Studentin Elke.

Sie grüpelet auf einer Anhöhe im Wald und geniesst den letzten Sonnenstrahl. Was nach «diskret wegschauen» aussieht, entpuppt sich als Vorlesung in nachhaltiger Entwicklung. «Ich lerne der Aare entlang, zwischen den Bäumen, um es besser zu speichern.» Fünf Kilometer legte sie lernend zurück: «Warum ist die Natur schützenwert: Damit der Mensch einen Nutzen hat? Ästhetik? Solidarität gegenüber der Schöpfung?» Elke ist Vertreterin des «Physiozentrismus». Alles hat eine Funktion, selbst das Nichtlebendige wie Steine und Wasser. «Ich weiss nicht, wie eine Schnecke fühlt, die über einen Stein kriecht.» Der Gedanke an die kriechende Schnecke und den Stein schaffe jedoch Beziehung. «Gewissermassen reden auch die Bäume.»

Unterwegs zur Tiefenaubrücke verbergen sich die Schnecken zunehmend im Dunkeln, bis um 23 Uhr nur noch die Bäume durch den Wald flüstern. Sachte schliesst sich der Deckel der Puppenkiste nach einem beschaulichen Anfang.


«Nur drüben am anderen Trottoir
 Gehn meine eignen Schritte.»

Joachim Ringelnatz, «Nächtlicher Heimweg»

Überstunden

Die Quartiergrenze hat auch ein anderes Gesicht – ein urbanes, weniger liebliches. Die Nacht um den Bahnhof herum bildet zum Autoexperten aus, mit Werbeplakaten als Studienlektüre. Zwei Marken scheinen Trend: «Das beste Auto» und das Auto «ab 11’900». Was im Aufsatz Abzug gibt, verschafft dem Autohersteller Mehreinnahmen: Wiederholungen. Nach drei Kilometern giert selbst der hartgesottenste Autogegner nach dem «besten Auto». Doch vorerst zum Ausgangsort: Lorrainebrücke, 21.30 Uhr.

Die Aare wirkt im Mondschein müder als tagsüber. Vielleicht hält sie es wie die Wale: Sie schläft nicht, aber treibt dösend vor sich hin. Ein kurzes Hupen zerstreut die Gedanken. «Wosch e schöne Chare fotografiere?» Lang, silbrig, weder das beste, noch 11’900, aber die blaue «Ente» aus dem Appenzell würde sich klein fühlen daneben. Die Ampel schaltet auf Grün und der «Chare» in höhere Gänge.

Menschen sind nur wenige anzutreffen. Die einen wirken wie in Watte gepackt, andere ermattet. «Überstunden», stöhnen vier rauchende Frauen vor dem Bollwerk. «Weil wir unsere Kunden lieben.» Aktive Arbeitskräfte also. Vielleicht haben sie auch Erich Fromm gelesen. Ein Werbeplakat im Hintergrund prophezeit den Frauen die Zukunft. «Das Leben sollte wieder einfacher werden.» Wenn nicht, gibt es «die neue App für Verlorene», verrät ein Plakat auf dem Kurzzeitparkplatz, der eigentlich zum Stadtteil 1 gehört.

Grenzüberschreitung

Zurück im Stadtteil 2 verfolgen zwei junge Männer auf der grossen Schanze über die Absperrung hinweg einen Kinofilm. «Es hat noch 120 Plätze», lockt ein Plakat beim Eingang. «Morn isch o no e Tag», ruft der Schauspieler auf der Leinwand in die Nacht. Das ist gut. Es ist kalt, die Grenze noch lang und ein bisschen benebelt einen die einseitige Konversation. «Wenn mir beim Spazieren die Denkthemen ausgehen, dann schreibe ich jemandem gedanklich einen Brief», verriet kürzlich eine Weitspaziergängerin. An Einwurfmöglichkeiten fehlt es nicht: Gelb stehen sie Seite an Seite am Schanzenstutz.

Der Brief muss warten. Vorerst steht eine Grenzüberschreitung an, vom Stadtteil 2 in den Stadtteil 3. Fremdgehen auf der Laupenstrasse. Die eigenen Schritte bleiben lange das einzige Geräusch. Irgendwann erklingen sie in der Gesellschaft zweier männlicher Stimmen. Sopran: «Man braucht einfach eine feste Stelle für finanzielle Sicherheit.» Tenor: «Neneei.» Sopran: «Ja, was machst du denn im Moment?» Tenor: «Haut grad nüüt. Arbeitslos.» Sopran: «Und das geht?» Tenor: «Es isch nid eifach.»

Die Schritte überholen und verhallen, dann wird der Stadtteil 3 überraschend intim: «Heute schon den Frosch geküsst?», fragt ein Gebotsschild von rechts, während sich links der Bus zur Verfügung stellt: «Wenn dich sonst niemand abschleppt.» Darum also das Zivilstandesamt an der Laupenstrasse.

Ohne Abschleppdienst weiter in die Murtenstrasse, vorbei an Steinmetz und Friedhof, unterwegs die schon fast vertrauten Stimmen «Das beste Auto», «jetzt ab 11’900». Alles spricht, auch ohne Menschen. Da tritt die Kreuzung Forsthaus in den Blick, der Wald, das heimische Gefilde. Stadtteil 2.


«Geht hinter den Wolken und den Baumwipfeln die orangengelbe Sonnenkugel auf, ich verneige mich vor ihr.»

Franz Hohler, «Spaziergänge»

Yvonne fährt

Zugegeben: Die Quartiergrenze Länggassstrasse-Felsenau ist mit knapp 22 Kilometern länger als gedacht. Sie umfasst mehr als fünf Quadratkilometer Wald. Wer die Grenzen detailliert ausloten will, macht nicht einfach einen Spaziergang durch das Quartier, sondern eine Tageswanderung. Wer sie korrekt ausloten will, der braucht Tauchanzug und Kletterausrüstung. Und wer sie alleine ausloten will, schreibt gedanklich mehrere Briefe statt nur einen. Darum schummeln. Für die dritte Etappe ist eine Spazierfahrt angesagt, etwa acht Kilometer ab Autobahnausfahrt Forsthaus. Yvonne fährt. Zwischendurch trommelt der Regen aufs Dach, dann späht wieder ein Sonnenstrahl zwischen den Wolken hervor.

Die Welt wirkt durch die Autoscheiben vergänglicher, ein bisschen übersichtlicher auch als zu Fuss. Während sich die kleinen Dinge dem Blick entziehen, fallen die grossen ins Auge. «Die eierlegende Wollmilchsau», kommentiert Yvonne die Kehrichtverbrennungsanlage Forsthaus zu ihrer Rechten. Sie liegt wie ein Dampfschiff im Waldmeer. Die Wollmilchsau wird im Internet ausgedeutscht als «Kombination der Kehrichtverwertung mit einem Holzheizkraftwerk sowie einem Gas- und Dampfkombikraftwerk».

Beim Stägmatt-Steg

Es ist eine lange Strasse, die Eymattstrasse und sie führt auf direktem Weg zum tiefsten noch sichtbaren Punkt der Quartiergrenze. 480 Meter über Meer, irgendwo beim Camping. Es fühlt sich an wie Schweden. Kleine, farbige Holzhäuschen auf Pfählen säumen das Aareufer beim Stägmatt-Steg.

Hier logiert der Ruderclub Bern. Die verlassenen Turnschuhe der Ruderer auf der Anlegestelle zeugen vom Wandel der Zeit. «Je greller die Farben, desto beliebter», erklärte kürzlich ein Verkäufer im Sportgeschäft. Im Kontrast dazu die vier grauen Hinterkappelen-Hochhäuser, die sich dem bewölkten Abendhimmel entgegen strecken. Nur die Aare bleibt sich treu, jahrein, jahraus im grünen Kleid.

In dieser Ecke des Quartiers atmen die Menschen lauter – auf dem Fahrrad, joggend, rudernd oder einfach mit Qigong «zur Kultivierung von Körper und Geist», wie Wikipedia die chinesische Meditationsform beschreibt. Verschlängelte Waldpfade würden ab hier der Grenze entlang führen. Das Schummeln erfordert einen Umweg über Wohlen Richtung Bremgarten, den Stadtteil 2 stets im Blick, in seinem Hintergrund Eiger, Mönch, Jungfrau, Stockhorn und anderes. Zweimal würgt der Motor ab – wegen der «orangegelben Sonnenkugel», die sich im Rückspiegel senkt und die die Wolken rosa färbt. Wir verneigen uns vor ihr.


«Regengrün. Schluck- und Trinkgrün. Saftgrün im Sommer. Strotzgrün. Knallgrün. Seelengrün.»

Peter Weber, «Der Wettermacher»

Roland

Der Regen der vergangen Wochen verwandelt die letzten fünf Kilometer zwischen Lorraine- und Tiefenaubrücke in eine Pfützenlandschaft. Die Fische stört das nicht. Unbeirrt schwimmen sie zum Laichen vom Wohlensee flussaufwärts über das Fischtreppchen beim Stauwehr Felsenau. Ausser Roland zieht sie vorher an Land.

Roland sitzt schweigend am Ufer und wartet wie so oft. Auf Barben, Forellen, Hechte, Egli, Äsche oder Aale. Nach ein paar Minuten spannt die Leine. Ein Fisch? Er schüttelt den Kopf. «Ein Stein.» Er lebt, würde wohl Elke sagen, und erspart einem Fisch den Weg auf den Teller. Roland zieht einen Gegenstand aus der Tasche. Ein längliches Ding, ähnlich wie der kleine Kniesehnenreflex-Hammer. «Ein Totschläger», schmunzelt Roland. Er gehöre zur Ausrüstung eines echten Fischers. Mit dem Totschläger wird es später dem Fisch eins über den Schädel ziehen. Die Anästhesie vor dem Kiemenschnitt.

Zu einer Vorführung kommt es nicht. Der Weg führt über 68 Treppen in den Wald hinauf, immer Richtung Thormannmätteli, wo der Wasser-Sport Club Bern Pächter der Parzelle 1306 ist. Auf einer Tafel droht er bei einer «Besitzesstörung schlechthin» mit «einer Busse von Fr. 1.- bis 10.-». Das sind milde Preise, die dort zustande kommen, wo der Mensch eingeklemmt ist zwischen Wald und Fluss.

Fünf Minuten, zwanzig, eine Stunde? Immer weiter gehen durch die unzähligen Waldgrüntöne, die irgendwann im Seelengrün zusammenfallen, jedes Geräusch verschlucken und jede Ambition. Es sind Momente des gedanklichen Briefeschreibens. Gefüllt werden sie mit Bildern der vergangenen zweiundzwanzig Kilometer und Erinnerungen an all die Grenzgänger: Fischer, Ruderer, Qi-Gongler, Bogenschützen, Nachhaltigkeitsstudenten, Philosophen, Arbeitslose und Überstündler.

Die Einsicht bei der Tiefenaustation: Die Länggasse ist ein Panoptikum, und wenn es wirklich die Augsburger Puppenkiste war, die Adrian im Kopf hatte, dann soll das nun der Abspann sein.