Die Umzugskartons stapeln sich in dem kleinen Appartement. Nur wenige Möbel sind aufgestellt. Erst seit einer Woche lebt Elham Taghizadeh in Bern, an der Gesellschaftsstrasse. «Ich bin noch gar nicht zum Einrichten gekommen und lebe derzeit aus Koffer und Kisten», sagt die 28-Jährige und lächelt entschuldigend. In den wenigen Tagen nach ihrer Ankunft ist ihr auch nicht viel Zeit geblieben, denn sie hat bereits ihre Stelle als Doktorandin am Institut für Chirurgische Technik und Biomechanik der Universität Bern angetreten.
Soeben hat sie einen Vortrag über ihr Dissertationsthema gehalten. «Ich habe zu schnell gesprochen, weil ich aufgeregt war», sagt Elham in fliessendem Englisch. In dieser Sprache hat sie auch studiert und ihren Master in Informatik gemacht. Aktuell forscht sie zu künstlichen Kniegelenken. «Ich modelliere Prothesen und künstliche Gelenke mithilfe der Patientendaten aus der Computertomografie», erläutert die Doktorandin. In dieses Thema habe sie sich verliebt, weil es angewandte Informatik sei und sie Menschen helfen könne.
Grosse Unterstützung vom Vater
Den Sprung aus dem Iran in die Schweiz hat die junge Frau bereits vor zwei Jahren zum ersten Mal gewagt, als sie für eine 16-monatige Assistenzstelle nach Martigny kam. «Viele meiner Freunde gingen nach dem Abschluss ins Ausland, vor allem in die USA, aber auch in die Schweiz. Ich dachte, das sei vielleicht auch gut für mich.» Doch Elham zögerte zunächst und suchte nach geeigneten Stellenangeboten in der ganzen Schweiz. Insgesamt ein Jahr lang hat sie ihren Auslandaufenthalt vorbereitet. «Meine Eltern, besonders mein Vater, haben mich während meiner ganzen Ausbildung sehr unterstützt und ermutigt», sagt Elham. Bereits als kleines Mädchen habe sie sich sehr für Mathematik und Naturwissenschaften interessiert und früh gewusst, dass sie studieren möchte. Auch ihre drei Geschwister studieren oder sind in die Forschung gegangen.
«Die Situation der Frauen im Iran hat sich in den vergangenen zehn Jahren sehr verbessert.»
Elham Taghizadeh
Elham stammt aus einem kleinen Dorf aus dem Nordosten des Irans. Elham ist bilingue aufgewachsen, mit ihrer Muttersprache Turk und der offiziellen Landessprache Farsi. Ihr Vater arbeitete als Tierarzt und die Mutter sorgte als Hausfrau für die Kinder. Ihre Familie lebt heute in der zweitgrössten Stadt des Irans, in Maschhad. Die Stadt an der Seidenstrasse ist ein religiöses Zentrum, in das jedes Jahr Zehntausende schiitische Pilger strömen. Auch Elhams Familie gehört den Schiiten an, der grössten Glaubensrichtung im Iran. Elham trägt das Kopftuch, den Hidschab, zwar aus Überzeugung, aber als traditionell bezeichnet sie sich nicht. Vielmehr möchte sie das Bild der Frauen in ihrer Heimat geraderücken.
Schwierige Jobsuche im Iran
«Mehr als die Hälfte aller Studierenden im Iran sind weiblich und die Frauen setzen verstärkt auf Ingenieurs- und Naturwissenschaften. Nach dem Studium ist es zwar etwas schwierig, einen guten Job im Iran zu finden, aber es gibt immer mehr Frauen mit Kindern, die arbeiten gehen. Für sie selber sei Heiraten und Kinderkriegen noch kein Thema. «Ich suche nicht nach der Liebe, aber wenn es passiert, wäre das schön», sagt sie und lächelt. Ihre Mutter habe sie
beim letzten Besuch gefragt, ob sie einen Freund habe ‒ nur aus Interesse, und nicht, weil die Eltern einen Ehemann vorgesehen hätten. «Das war früher so im Iran, aber ich und meine Generation können frei wählen. Die Situation der Frauen im Iran hat sich in den vergangenen zehn Jahren sehr verbessert.»
Konfrontation mit Klischees
Dass sie als iranische Frau mit Kopftuch automatisch auf die politische Situation in ihrem Heimatland und die Rolle der Frauen im Islam angesprochen wird, kann Elham gut verstehen. Über die politische Lage möchte sie lieber nicht reden und sagt nur so viel: «Ich bin nicht glücklich, wie es im Iran derzeit ist.»
«Im Iran ist es nicht so schlecht, wie es in den Nachrichten zu sehen ist.»
Elham Taghizadeh
Im Alltag seien für die Menschen vor allem finanzielle Probleme zu spüren und die Verteuerung der Lebensmittel. Es sei nicht alles gut in ihrer Heimat, «aber auch nicht so schlecht, wie es in den Nachrichten zu sehen ist».
Sie habe erlebt, wie sich die Vorbehalte gegenüber ihrem Land gewandelt hätten, nachdem der Film «A Separation» im vergangenen Jahr in einigen Schweizer Kinos zu sehen gewesen sei. «Die Menschen haben darin das moderne Leben im Iran kennengelernt, von dem sie zuvor wenig Gutes in den Nachrichten gehört haben. Die Filmemacher versuchen ein normales Leben zu zeigen, und darauf wurde ich angesprochen», erzählt Elham.
Sie habe in der Schweiz glücklicherweise keine schlechten Erfahrungen wegen ihrer Nationalität gemacht. Manche Leute hätten ihr vielleicht gerne Fragen zum Iran gestellt, trauten sich aber nicht, weil sie fürchteten, sie könne sich unwohl fühlen. «Aber mir geht es sehr gut mit den Schweizern.»
Facebook gegen das Heimweh
Sie sei anfangs eher schüchtern gewesen, weil sie Mühe mit der Sprache hatte. «Inzwischen bin ich viel offener geworden.» Am Arbeitsplatz habe sie viele Freunde gefunden ‒ aus vielen Nationen: aus Thailand, Indien, Aserbaidschan und der Türkei. Mit ihnen verbringe sie am liebsten ihre Freizeit, gerne auch draussen mit brätlen, wandern oder Velo fahren. «Ich liebe die Schweizer Natur, besonders die Farbe der Seen ‒ dieses Blau ist so klar und rein ‒ und dass es
hier überall so sauber ist.» In der Aare gebadet hat sie noch nicht. «Ich schwimme nicht gern, neugierig wäre ich schon. Vielleicht versuche ich es eines Tages.» An Bern gefallen ihr besonders die vielen Brunnen in der Altstadt und die Kellergeschäfte.
«Eines Tages möchte ich gern als Professorin in den Iran zurückkehren.»
Elham Taghizadeh
Ihre Eltern besucht sie nur selten. Die Reisen nach Hause seien einerseits schön, andererseits schwierig, weil ihr der Abschied jeweils schwerfalle. Gegen das Heimweh verbringt sie in der Schweiz viel Zeit auf Facebook, um mit Freunden und Verwandten zu chatten. «Im Iran sind die verwandtschaftlichen Beziehungen enger als hier. Wir treffen uns regelmässig bei Familienzusammenkünften, das ist schön. Manchmal kann es auch alles zu viel werden, weil jeder alles über dich weiss.» Nach der Dissertation möchte Elham weiter in der Forschung arbeiten, dann aber in einem anderen Land, um noch mehr von der Welt und ihren verschiedenen Kulturen kennenzulernen. «Und eines Tages möchte ich gern als Professorin in den Iran zurückkehren und an einer Universität lehren.»