Emotional soll er sein – oder sie

von Jessica Allemann 7. März 2013

Freundlich und belastbar, kompetent und kollegial, emotional und musikalisch überraschend – welche Eigenschaften sollte der Nachfolger oder die Nachfolgerin des Chefdirigenten Srboljub Dinić mitbringen? Zweiter Teil des Interviews mit Michael Rubeli und Sebastian Schindler vom BSO.

Die beiden Chefdirigenten Mario Venzago und Srboljub Dinić suchen unterschiedliche Orchesterklänge. Ist es für den einzelnen Musiker und die einzelne Musikerin eine besondere Herausforderung, gleichzeitig auf verschiedene Dirigentenforderungen einzugehen?

Michael Rubeli:

Natürlich ist ein Orchester, das über eine längere Zeit einen gewissen Stil pflegt, auch ein wenig darauf eingefuchst und hat einen entsprechenden Ruf. Schade ist es, wenn man die Klangvorstellungen bewertet. Srboljub Dinić kommt mit seinem gesunden, romantischen Klang eher aus einer slawischen Richtung, was zu einer Verdi-Oper gut passt. Er hat auch weniger filigrane Stücke von Händel oder Mozart realisiert. Seinen Namen hat er sich eher mit Tschaikowski-Interpretationen gemacht. Und dort passt sein Klang sehr gut. Venzago ist ein neues Markenzeichen. Aber wie gesagt, man sollte die Stile nicht gegeneinander ausspielen, sondern gleichwertig stehen lassen.

Sebastian Schindler:

Mario Venzago sucht den «französischen Klang», wie er es bezeichnet. Da spielen Holz und Blech feiner, technisch sehr perfekt und klanglich filigran, nicht so wie das schwere Deutsch-Romantische. Ich finde, dass dieser feine Klang auch gut für das Theater und die Oper ist. Dort muss man sehr dezent spielen, um die Sängerinnen und Sänger nicht zu überdecken. Der neue Klang des Symphonieorchesters passt also auch gut in die Oper. Im Zuge der Fusion von Stadttheater und Orchester ist das ein Gewinn.

Ein Chefdirigent bestimmt die Richtung, in die sich ein Orchester klanglich bewegt – hat es in einem Orchester keinen Platz für zwei Chefdirigenten?

S:

Im Symphonieorchester zwei Dirigenten zu haben, funktioniert nicht. Das ist wie zwei Kutscher, die in zwei unterschiedliche Richtungen fahren. Aber da wir Symphoniekonzerte und Oper spielen, geht es sehr gut, dass man den Chefdirigenten im Symphonieorchester und den Kapellmeister oder einen Chef der Oper, wie wir den Nachfolger Dinićs vielleicht nennen werden, hat. Und der in seinem Bereich der Oper mit uns arbeiten kann. Wir sind wie eine Knetmasse. Wir sind da, bringen unsere Klangfarbe mit und lassen uns formen.

R:

Und doch würde ich sagen, dass Mario Venzago die künstlerische Stossrichtung vorgegeben hat. Dinićs Nachfolge wird wahrscheinlich in etwa in dieselbe Richtung gehen. Dieser Klang liegt im Moment auch im Trend.

«Auf jeden Fall sollte der Dirigent auch sehr emotional sein.»

Sebastian Schindler, Berner Symphonieorchester

Inwieweit kann das Orchester bei der Besetzung der neuen Stelle mitreden?

R:

Die Direktion lädt mögliche Kandidaten ein und entscheidet damit bereits, in welche Richtung es gehen soll. Wir dürfen uns natürlich äussern. Weniger die Person ist zentral als die Qualität. Dirigieren ist schwieriger, als man denkt. Auf vier schlagen können wir alle. Aber etwas zu zeigen, das musikalisch Sinn macht und inspiriert ist, ist nicht einfach. Mit den vorhandenen Geldmitteln diese Qualität ins Haus zu holen, ist eine grosse Herausforderung. Gute Dirigenten haben ihren Preis.

Welche Eigenschaften, ausser einer hohen Dirigierqualität, sollte der Nachfolger Dinićs aus Orchesterperspektive mitbringen?

R:

Er sollte einen transparenten Klang pflegen. Sodass man die verschiedenen Register wahrnimmt.

S:

Das Idealbild wäre eine offene Persönlichkeit mit tollen interpretatorischen Vorstellungen, die gleichzeitig Bühne und Orchester bestens organisieren kann und dabei auch noch freundlich ist. Auf jeden Fall sollte der Dirigent auch sehr emotional sein. Er muss seine Gefühle und das, was er will, zeigen können. Es nützt nichts, wenn ein Dirigent tolle Ideen hat, sie aber nicht vermitteln kann. Deshalb wünscht man sich einen emotionalen Menschen, der mit seinen Händen und Blicken kommunizieren kann.

R:

Er muss schlagtechnisch viel draufhaben. Sodass er zuhinterst im Orchestergraben, aber auch auf der Bühne verstanden wird. Er wird unter dem extremen Druck stehen, in wenigen Proben ein Werk zur Aufführung zu bringen. Dem muss er standhalten können. Und in der heutigen Zeit wird auch eine gewisse Kollegialität gefordert. Dass man ansprechbar ist und nach der Probe auch künstlerische oder persönliche Probleme lösen hilft. Wenn er dann noch künstlerische Ideen mitbringt, die uns alle überraschen, wäre das das Tüpfelchen auf dem i.

Wer hat Aussicht auf den Chefposten am Musiktheater?

R:

Mögliche Kandidaten sind sicher alle, mit denen wir in dieser Saison schon zusammengearbeitet haben. Viel können wir noch nicht verraten. Noch ist alles im Fluss.

Könnte es eine Frau sein?

S:

Logisch.

R:

Absolut. Wir haben recht viele Erfahrungen mit Frauen gesammelt. Marianne Käch, unsere vormalige Konzertdirektorin, hat sehr darauf geachtet, dass auch immer wieder eine Frau vor dem BSO stand. Und da hatten wir sehr valable Frauen dabei.

S:

Anu Tali zum Beispiel.

R:

Und hier haben sich jetzt bereits auch schon zwei Frauen als Kapellmeisterinnen vorgestellt. Im Orchester spielen übrigens sehr viele Frauen, auch als Stimmführerin und Solistin.

«Wir wären bereit für eine Dirigentin.»

Michael Rubeli, Berner Symphonieorchester

Dirigentinnen sind nach wie vor selten.

S:

Selten würde ich gar nicht sagen. Vielleicht sind sie noch ein bisschen rar. Aber das liegt vielleicht an den Dirigentinnen selber, dass sie sich noch zu wenig zutrauen. Aber es gibt zum Beispiel in Hamburg die Australierin Simone Young, die sehr gut ist.

R:

Bei uns wurde Fidelio von der jungen sehr talentierten Mirga Gražinytė-Tyla nachdirigiert. Das ist sehr gut angekommen.

S:

Ob Mann oder Frau spielt eigentlich keine Rolle.

R:

Wir wären jedenfalls bereit für eine Dirigentin.


Lesen Sie auch den ersten Teil des Interviews: «Ein Orchester ist keine Demokratie»