Einfach grosse Kunst

von Christoph Reichenau 18. Februar 2020

Jetzt sind sie zu zweit, vereint und doch getrennt: Neben der Ausstellung von Teruko Yokoi im Kunstmuseum ist im Zentrum Paul Klee nun jene von Lee Krasner zu sehen, «Living Colour». Grosse Künstlerinnen beide, in auffallender Verschiedenheit.

Es ist eine fantastische Ausstellung im Zentrum Paul Klee. Zu entdecken ist das bildnerische Schaffen einer grossen Künstlerin durch alle ihre Lebens- und Arbeitsphasen. In der Raumeinteilung des Zentrums Paul Klee kann der Blick frei schweifend Bilder unterschiedlicher Entstehungszeiten, unterschiedlicher «Stile» gleichzeitig betrachten bzw. ins Auge fassen bzw. erhaschen – eine der Stärken der Installation der Ausstellung an diesem Ort: Man sieht voraus, man blickt zurück und hat die Chance, sich eine eigene Vorstellung des Gewordenen zu machen.

Die Bilder elektrisieren. Lee Krasner (1908-1984), man wusste es, ist eine der ganz grossen Künstlerinnen des sogenannten abstrakten Expressionismus in den USA. Doch das so zu schreiben, erweckt ein falsches Bild. Denn Krasner war nicht ausschliesslich unter Künstlerinnen gross, sie war nicht bloss in den USA gross, sie war nicht einfach in einem bestimmten Mal- und Ausdrucksstil gross. Lee Krasner war in ihrer inneren Vielstimmigkeit und auf ihrem äusseren Lebensweg eine bedeutende Künstlerin als Frau.

Künstlerin sein

Ist das wichtig? Ich finde ja. Denn ob man Lee Krasner, wie bisher meistens, im Schatten ihres berühmten Lebensgefährten Jackson Pollock sah (das taten und tun auch Frauen), oder ob man sie jetzt gerade daraus befreit – ihr Frausein bestimmt im Positiven oder Negativen die Sicht auf ihre Bilder mit. Dabei wollte Krasner von jung an nur eines sein: Künstlerin. Und dies auch wurde und war ihr Leben lang; selbstbestimmt, eigenständig, durch viele Wandlungen hindurch mit einer staunenswerten Energie, Hingabe, Konsequenz, Courage.

Die im Zentrum Paul Klee installierte Ausstellung, die erste in Europa seit 1965, ist vom Barbican Centre London kuratiert und organisiert. Sie war nach London in der Schirn Kunsthalle Frankfurt a.M. zu sehen und wird von Bern aus noch ins Guggenheim Museum Bilbao reisen. Hauptkuratorin ist Eleanor Nairne (London) und für Bern Fabienne Eggelhöfer (ZPK).

Kein fester Stil

In den elf den Ausstellungsraum gliedernden Abteilungen wird Lee Krasners Entwicklung beleuchtet. Schon die Vierzehnjährige in New York, aus einer Familie russischer Immigranten stammend, will Künstlerin werden. Sie ermalt sich unerschrocken Zugang zur Ausbildung und von Beginn an sucht sie reflektiert ihren eigenen künstlerischen Ausdruck, der nie ein eindeutig wiederkennbarer Stil, eine «Kategorie» werden wird, sondern stets im Fluss bleibt und sich in Werkzyklen ausdrückt, die auch unter Rückgriff auf frühere eigene Schaffensperioden weiterentwickelt werden. Äusseren Umständen – etwa der Dimension des Ateliers – passt sie die Grösse der Bilder und die Art des Malens oder Collagierens an; zuletzt setzt sie mit der ganzen Kraft ihres Körpers den Malbesen ein, klatscht ihn auf die Leinwand, um der Grösse des Bildes zu entsprechen.

Als Pollocks Schatten wird sie wahrgenommen; Christian Saehrendt hat sich in der NZZ (vom 13. Februar, Seite 39) mit Künstlerpartnerschaften befasst. Dabei war Krasner, in Künstlerkreisen sehr geachtet, die ab 1942 das «War Services Project» (mit Pollock und de Kooning) beaufsichtigt, in dem Schaufenster von Kaufhäusern gestaltet werden, um für öffentliche Zivilschutzkurse zu werben. Krasner führt Pollock in die Kunstszene ein, sie unterstützt ihn dabei, Ausstellungsorte zu finden. Sie ist die starke Frau in der Partnerschaft mit dem sonderlichen Künstler. Dennoch war sie sich «der stark beschnittenen Rolle von Frauen im Kunstbetrieb (und weithin in der Gesellschaft) sehr bewusst (…) und auch, dass von ihr Unterordnung statt Unabhängigkeit erwartet wurde» (so John Yau im Katalog).

Künstlersein neu entdecken

Und die Bilder? Sie werden in Zyklen eingeteilt, von den «Little Images», den «Collage Paintings», dem Werk «Prophecy» über die «Night Journeys», die «Primary Series» bis zu den «Eleven Ways to Use the Words to See». Sie sind abstrakt, zuerst klein, werden grösser, sind schliesslich riesig. Es ist schon schwierig, die Bilder nur zu beschreiben, weil die Verwendung vorhandener Materialien und die Arbeitsweise so wichtig sind. Dies gilt vor allem für die aus verworfenen und zerrissenen Zeichnungen neu gefertigten Collagen 1953 und dann auch 1975, wenn das Material nun mit der Schere scharfkantig ausgeschnitten wird. Es ist mir unmöglich, die Bedeutung, die Aura der Bilder in Worten zu erfassen. Worte können nicht annähernd die Eindrücke vermitteln, welche die Werke – für jede und jeden anders – ausstrahlen.

Die Ausstellung erhellt und vertieft ein sehr informativer Katalog, der Lee Krasners weiten Weg erzählt, die gezeigten Werke abbildet und in packenden Fotos auch auf die Lebens- und Arbeitsumstände der Künstlerin hinweist. Praktisch ist der Ausstellungsführer im Taschenformat; er beantwortet von Station zu Station die wichtigsten Fragen, die man sich stellt.

In einem Satz: «Living Colour», so heisst die Ausstellung, ist weit mehr als die Würdigung einer grossartigen Künstlerin; sie bietet uns die Chance, Kunstmachen und Künstlersein an sich neu zu entdecken.