Einer, der sich traut

von Christoph Reichenau 28. Oktober 2014

Ernst Waldemar Weber ruft mit seinem Buch «Der Vulkan Ungleichheit» den weltweiten Skandal ungerechter Gesellschaften in Erinnerung. Er traut sich, konkrete Vorschläge zum Handeln zu machen.

«Hütet euch vor alten Männern, denn sie haben nichts mehr zu verlieren», soll George Bernard Shaw gelästert haben. Vielleicht nicht zu verlieren, manchmal aber einiges zu bieten – das haben einzelne sicher. Stéphane Hessel hat es mit seinem Aufruf «Indignez-vous» vorgemacht. Aus Muri meldet sich jetzt Ernst Waldemar Weber zu Wort. Er ist 92 Jahre alt und hellwach. Sein neues Buch heisst «Der Vulkan Ungleichheit – Fakten, Folgen, Fragen». Es kostet 18 Franken und ist eben im Eigenverlag erschienen.

Drei Dokumente und ein Vorschlag

Das 120seitige Buch besteht aus vier Teilen. Zuerst fasst Weber einen 2011 erschienenen Bericht der OECD (der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, in der die Schweiz Mitglied ist) zusammen. Dort werden wachsende Ungleichheit der Arbeitseinkommen in den Industrieländern festgestellt. Dann zeigt er anhand des Buchs «Gleichheit ist Glück: Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind» von Richard Wilkinson und Kate Pickett (Tolkemitt Verlag bei Zweitausendeins, 2010) auf, welche individuellen und sozialen Schäden die Ungleichheit bewirkt.

Im dritten Teil zitiert er aus der Enzyklika «Gaudium evangelii» von Papst Franziskus (2013) Passagen zur Ungleichheit in der Wirtschaft mit dem Kernsatz: «So neigt das Böse, dem man einwilligt, das heisst die Ungerechtigkeit, dazu, ihre schädigende Kraft auszudehnen und im Stillen die Grundlagen jeden politischen und sozialen Systems aus den Angeln zu heben».

Abschliessend macht Weber selber konkrete Vorschläge, wie wir alle hier und jetzt zu mehr Gleichheit beitragen können.

Die Ungleichheit wächst

Nach der Lektüre ist man erschlagen. Die OECD stellt fest, dass in den untersuchten dreissig Jahren seit 1980 weltweit und in Europa das Lohngefälle zunahm und die Einkommen der Haushalte auseinander drifteten. Das Wachstum von Wirtschaft und Beschäftigung änderte daran nichts. Wohl konnte in Schwellenländern wie Brasilien die Armut verringert werden. Doch gleichzeitig stieg auch dort die Einkommensungleichheit weiter an auf heute 1:50. Dies gilt – weniger ausgeprägt – ebenso für Deutschland, Dänemark und Schweden (ein Anstieg von 1:5 auf 1:6) – mit Folgen für den sozialen Zusammenhalt.

Und mit Konsequenzen für die Einzelnen und die Gesellschaft. Wilkinson und Pikett weisen mit Zahlen aus vielen Industrieländern nach, dass zwischen der Einkommensverteilung und dem Ausmass sozialer und gesundheitlicher Probleme ein direkter Zusammenhang besteht. Eine gleichere Gesellschaft ist eine gerechtere. Mehr Gleichheit vermindert die Kosten der durch Armut erzeugten Probleme: höhere Kindersterblichkeit, ungleiche Lebenserwartung «unten» und «oben», weit geringere formale Bildung der schlechter Gestellten, Anstieg von Gewalt, fehlende Möglichkeit sozialen Aufstiegs, schrumpfender Glaube an die Zukunft.

Die Ungleichheit wächst: «Wenn man von den mildernden Effekten des Wohlfahrtsstaates über Steuern und Transfers von Einkommen absieht, hat die Ungleichheit in den letzten drei Jahren bis Ende 2010 stärker zugenommen als in den vorangegangenen zwölf Jahren», konstatiert Weber mit Bezug auf die OECD.

«Diese Wirtschaft tötet»

Nahtlos schliesst die päpstliche Enzyklika an: «Als Folge dieser Situation sehen sich grosse Massen der Bevölkerung ausgeschlossen und an den Rand gedrängt: ohne Arbeit, ohne Aussichten, ohne Ausweg. Der Mensch an sich wird wie ein Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen und dann wegwerfen kann. […] Die Ausgeschlossenen sind nicht ‚Ausgebeutete‘, sondern Müll, ‚Abfall‘.»

Wir müssten, heisst es weiter, «ein ‚Nein zu einer Wirtschaft der Ausschliessung und der Disparität der Einkommen‘ sagen. Diese Wirtschaft tötet.» Das gesellschaftliche und wirtschaftliche System sei «an der Wurzel ungerecht».

Wir können etwas tun

Was nun? Für Weber ist eines sicher: Es braucht eine gewaltige gemeinsame Anstrengung. Und die beginnt bei uns. In vier Kreisen – bei uns zuhause, in der Gemeinde, landesweit, international – schlägt der Autor Handlungsmöglichkeiten vor. Sie beginnen beim Grüssen auf der Strasse, beim Pflegen der Nachbarschaft. Sie raten zum gemeinsamen Singen bei vielen Gelegenheiten, auch in speziellen SBB-Waggons, die der Kommunikation gewidmet werden könnten. Sie beleuchten die Vorzüge der Wohnbaugenossenschaften, des Engagements in Vereinen.

Weber tritt für den Grundsatz der Subsidiarität als entscheidendes Merkmal unserer Demokratie ein: Dass Aufgaben, Problemlösungen und Entscheidungen so weit wie möglich der untersten Ebene überlassen werden – Voraussetzung und Einladung zum persönlichen Einsatz auch in der Politik. Dort fordert er Transparenz bei der Parteienfinanzierung, die Umsetzung des Gebots von gleichem Lohn für gleiche Arbeit.

Weber will das Musische in der obligatorischen Schule stärken, die Berufsbildung aufwerten. Der Boden müsste der Allgemeinheit gehören und an diese müsste Zins für die Nutzung bezahlt werden. Der Steuerwettbewerb unter den Kantonen sollte durch Leitplanken eingegrenzt werden, die Steuergerechtigkeit gewährleisten; Fernziel wäre eine ökologische Steuerreform.

In die Schranken weisen will Weber den Wachstumsmythos und die Geldschöpfung durch die Banken (Vollgeld). Von einer Steuer auf Finanztransaktionen, über fairen Handel, den Gesundheitsschutz der Arbeitenden bis zur sicheren Wasserversorgung für alle reichen seine Überlegungen – die abgerundet werden durch den Vorschlag des Ökonomen Thomas Piketty (im Buch «Das Kapital im 21. Jahrhundert») einer weltweiten Erbschaftssteuer.

Utopie ist Anlass zum Handeln

In ihrer Gesamtheit sind Webers Vorschläge eine Utopie. Er weiss es selbst und wendet sich deshalb auf der letzten Seite mit einem «Schlusswort an die Kritiker»: «Werdet ihr lächeln über den Träumer, der einen ganzen Katalog zur Verbesserung der Welt vorlegt? Oder werdet ihr die Probleme endlich angehen?»

Ich bin beeindruckt von Webers Klarsicht und Mut. Von seinem nicht nachlassenden Engagement, das der Name seines Eigenverlags «ceterum censeo» gut trifft. Ernst Waldemar Weber drückt sich nicht mit der Ausrede «ich bin nur ein Laie». Er hat es im hohen Alter auf sich genommen, Fakten zusammen zu tragen, um uns die Augen zu öffnen.

Und er lässt es dabei nicht bewenden, sondern traut sich, Verbesserungsvorschläge zu machen, kleine und grosse, unmittelbar umsetzbare und langwierig zu erdauernde. Er scheut sich nicht, eine Utopie zu schildern. Was es für den Aufbruch dorthin braucht, ist letztlich die demütige Erkenntnis, dass es auf jede und jeden ankommt, und der Mut, dieser Erkenntnis zu folgen.