«eine waffe zu schmieden»

von Christoph Reichenau 8. September 2022

Sie war laut, heftig, kämpferisch. Sie kämpfte mit dem Wort und mit der Schrift gegen das Unrecht der administrativen Versorgung und um Gerechtigkeit für die Jenischen. Anfang September ist Mariella Mehr in einem Altersheim in Zürich gestorben. Die Schriftstellerin und politische Aktivistin wurde 75 Jahre alt.

«aus verwirrung am leben mit 13 zu lesen begonnen; nietzsche und karl may nachts unter der bettdecke. Es musste, so ahnte ich, andere realitäten geben als die realität prügelnder nonnen und mit elternlosen kindern vollgestopfte anstalten.»

So stellt sich Mariella Mehr 1985 vor im Literaturdossier «Zwischenzeilen» der Kultur-Stiftung Pro Helvetia. Da war sie 38. Ihr autobiographisch grundierter Roman «steinzeit» (1981) hatte Furore gemacht und Literaturpreise gewonnen. Mit dem Gedichtband «in diesen traum schlendert ein roter findling» (1982) war eine poetische Seite der Schriftstellerin zu Tage getreten. Und in «das licht der frau, ein versuch» (1984) hatte sie sich als explizit politische Autorin geäussert.

In einem Interview sagte Mariella Mehr: «Die Frauen haben nie über die Macht nachgedacht, sonst hätten sie schon lange etwas verändert. Es macht eben Angst, über Macht nachzudenken, da muss man selber viel von sich ergründen, man muss wissen, was für ein Verhältnis man zur Macht hat, zur Macht, die du ausübst und zu der, die dir angetan wird. Darüber wollen die Frauen nicht nachdenken. Sie meinen, es sei genug, wenn man die Macht von den Männern übernehme.» Mariella Mehr genügte es nicht, nicht nachzudenken. Sie hatte so viel und grausame Macht erlitten, dass sie Macht an sich hinterfragte, auch aus Angst sie selber zu missbrauchen.

Es macht eben Angst, über Macht nachzudenken.

Ihr Leben war von Beginn an bestimmt durch die Gewalt von Behörden. Als Kleinkind wurde sie von der Stiftung Pro Juventute in der «Aktion Kinder der Landstrasse» (bis 1973 vom Bund subventioniert) ihrer jenischen Mutter weggenommen und in Pflegefamilien, Heimen und Kliniken platziert. Sie erfuhr Behandlungen mit Elektroschocks und sexuellen Missbrauch. Als sie mit 17 Jahren schwanger war, liess ihr Vormund, eine Frau, sie «wegen sittlicher Verwahrlosung und Arbeitsscheu» administrativ versorgen. Mariella Mehr kam auf unbestimmte Zeit in das Frauengefängnis Hindelbank. Sie wurde nach einem Fluchtversuch zurückgebracht und verbüsste in der Dunkelzelle die Strafe dafür. Dabei erkannte sie «wohl eine der schrecklichen Wahrheiten überhaupt (…): die Wahrheit über die Fähigkeit des Menschen, mit Lust zu foltern und zu töten.»

In der Versorgung gebar Mariella Mehr 1966 ihren Sohn Christian. Dieser wurde – wie Katrin Rieder in einem Porträt Mariella Mehrs schreibt – kurz vor Entlassung der Mutter fremdplatziert und Mehr auf Veranlassung von Pro Juventute zwangssterilisiert.

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Wieder «draussen» veröffentlichte Mariella Mehr anonym die «Autobiografie einer Jenischen» (1973), gründete sie die Radgenossenschaft der Landstrasse mit, war deren erste Geschäftsführerin und schrieb in der Zeitung «Scharotl» gegen Pro Juventute an.

1986 erschien Mehrs Dokumentation und Theaterstück «Kinder der Landstrasse». Darin, schreibt Katrin Rieder, «klagt Mariella Mehr die Wegnahme jenischer Kinder aus ihren Familien durch die Pro Juventute als versuchten sozialen und kulturellen Genozid an. (…) Sie zeichnet die jahrzehntelange Behördenwillkür anhand ihres eigenen Schicksals und dem ihrer Familie nach.»

Die Publikation hatte grosse Wirkung. Ein paar Jahre zuvor hatte in der Bundesverwaltung eine Arbeitsgruppe erstmals die Lebenswirklichkeit der Jenischen zu erfassen versucht und deren praktische Bedürfnisse für einen ihnen gemässen Alltag beim Fahren in Empfehlungen zur Unterstützung der Kultur, Bildung, der Stand- und Durchgangsplätze sowie von Gewerbepatenten umgemünzt. Deren Umsetzung harzt 40 Jahre später noch immer. Immerhin kam es 1986 zur Entschuldigung des Bundesrats und der Stiftung Pro Juventute für die «Aktion Kinder der Landstrasse» (1926-1973), später zur Gründung und Mitfinanzierung der Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende durch den Bund.

An der Fecker-Chilbi 2016, ihrem traditionellen Fest, versprach Bundesrat Alain Berset den Jenischen und Sinti die Anerkennung als nationale Minderheit mit diesen Bezeichnungen und nicht nur indirekt als Fahrende. Viel war erreicht, doch die Lebensbedingungen der Jenischen und Sinti in einem Land mit überwiegend sesshafter Kultur bleiben prekär und sind ständig neu zu erstreiten.

Mariella war glaubwürdig weil sie erlebt hatte, worüber sie schrieb

An all dem hatte Mariella Mehr grossen Anteil. Für ihre literarischen Werke und ihren politischen Einsatz hatte sie 1998 die Würde einer Ehrendoktorin der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Basel erhalten. 2012 verlieh ihr die Verwertungsgesellschaft Pro Litteris einen Preis für ihr literarisches Lebenswerk. Später folgte der Bündner Literaturpreis. Katrin Rieder zitiert im erwähnten Porträt Mariella Mehr: «An einem bestimmten Punkt habe ich beschlossen mich nicht länger als Opfer zu fühlen und eine Schriftstellerin zu werden, die sich jenseits ihrer persönlichen Geschichte behaupten muss und als solche beurteilt wird. Das befreit mich allerdings nicht von meiner eigenen Erfahrung und auch nicht von meinem Mitgefühl den anderen Opfern unserer Gesellschaft gegenüber.»

Mariella Mehr, lange in Bern und später im Tessin sowie in Italien wohnhaft, bestimmte viele Diskussionen in Beizen und in Kulturorten. Mit ihrer rauen, tiefen Stimme konnte sie laut werden, wenn sie detailliert und in heftigem Zorn anklagte und Gerechtigkeit forderte. Sie hatte die Fehleinschätzung ihres literarischen Talents durch die Behörden als Chance genutzt: «Mein schreiben wurde belächelt, nicht ernst genommen. Unfreiwilligerweise gab man mir damit zeit genug, denken zu lernen und aus meinen belächelten schreibversuchen eine waffe zu schmieden, die sich gegen alles richtet, was den menschen am menschsein hindern will.»

Eine Anwältin des Menschseins fehlt. Mariella war glaubwürdig weil sie erlebt hatte, worüber sie schrieb, und ein Leben lang nicht loskam davon.