Eine Unschuld, die tief berührt

von Bernhard Giger 4. September 2020

Werner Schwarz widmet Bernhard Giger seine letzte thematische Fotografie-Ausstellung, bevor er Ende Jahres als Leiter des Kornhausforums Bern zurücktritt. Eine Herzensangelegenheit. Hier seine Vernissagerede.

Liebe Besucherinnen und Besucher

Es ist das erste Bild der Ausstellung. Aufgenommen wurde es in den Sechzigerjahren in einem entlegenen Bergdorf in Marokko. «Selbstporträt» haben wir daruntergeschrieben. Im Vordergrund zeichnet sich bildbestimmend der Schatten des Fotografen ab. Seiner etwas vornübergebeugten Haltung ist anzusehen, dass er gerade durch den Sucher seiner Rolleiflex schaut. Ob das Bild unabsichtlich entstanden ist, weil er im falschen Moment den Auslöser betätigte, oder bewusst, wissen wir nicht. Aber ich kann mir vorstellen, dass Werner Schwarz durchaus genau diese Situation fotografieren wollte. Dass ihm dieser Schattenwurf, auch wenn es sein eigener ist, oder gerade deswegen, dass ihm dieser Schattenwurf gefallen hat, der sich vor ihm über die staubige Erde legt, ein wenig, als wäre es eine Erscheinung aus einer anderen Welt.

Das war Werner Schwarz meistens, ein Eindringling von anderswo, ein Fremder. Aber ein freundlicher, einer, dem man angesehen hat, dass er mit guten Absichten kommt. Werner Schwarz hat auf seinen Reisen Menschen getroffen, die zuvor vielleicht noch nie einen wie ihn gesehen haben, einen weissen Europäer, oder zumindest noch nie Kontakt mit einem wie ihm hatten. Seine Sprache – Berndeutsch – verstanden sie nicht, aber er konnte sich trotzdem auf irgendeine Art verständigen. Und, noch wichtiger, Vertrauen schaffen. Dazu braucht es keine Worte, das läuft über die Gefühle. Die hatte Werner Schwarz ganz offensichtlich, und die, die er besuchte, haben das auch gespürt. Nur so konnten die Fotografien entstehen, die das Kornhausforum nun in seiner Galerie-Ausstellung zeigt.

1918 geboren, ist Werner Schwarz auf einem Bauernhof in Schliern bei Köniz als jüngstes von fünf Kindern aufgewachsen. Er wollte nicht Bauer werden, es zog ihn zur Kunst. Er absolvierte eine Lehre als Stilmöbelzeichner und besuchte Abendkurse an der Kunstgewerbeschule, danach arbeitete er als Restaurator. Eine alte Schreinerwerkstatt, die er 1942 nach der Rückkehr aus dem militärischen Aktivdienst erworben hatte, baute er sich in Schliern wieder auf, von den frühen Siebzigerjahren an wurde sie sein Arbeits- und Lebensort.

Es war bis zuletzt ein widerständischer Ort: Was in den Fünfzigern namhafte Architekten, unter ihnen der Berner Frank Geiser, als Modellstadt der Agglomeration angedacht hatten, geriet zehn Jahre später in die Hände von Spekulanten. In Schliern brach ein unkontrollierter Bauboom aus – die «Bude», wie er sie nannte, die «Bude» von Werner Schwarz war die Trutzburg dagegen. Aber die Veränderung seiner näheren Umgebung machte ihm zusehends zu schaffen. «Rings um Werners Atelierhaus werden auf dem verschacherten Bauernland Blöcke erstellt,» notierte seine langjährige Lebensbegleiterin Rosmarie Finger später über das Jahr 1985. «So kann Werner nicht mehr schöpferisch tätig sein.» Das Paar buchte deshalb kurzerhand eine Reise nach Rumänien, das erste Mal über ein Reisebüro. Die Idee war, dass Werner sich soweit erholen und entspannen konnte, dass er danach wieder malen mochte.

Als Künstler arbeitete er in unterschiedlichsten Techniken, viele seiner Bilder sind in Öl-Farben gemalt, er zeichnete auch oft, später schuf er Glasbilder. Seine Motive waren Landschaften, Alltagsszenen und Porträts. Von 1950 an ging Werner Schwarz auf Reisen, die erste führte nach England, die letzte 41 Jahre später nach Moskau. Auf seinen Reisen fotografierte er, meistens auf 6×6-Diafilmen, später drehte er Schmalfilme.

Eine kleine Erbschaft ermöglichte ihm 1960 den Erwerb eines Autos – ein gebrauchter VW-Bus – und eines Fotoapparats. Daneben blieb noch etwas Geld für erste längere Reisen: 1960, er war nun 42, nach Marokko, ein Jahr später gleich noch einmal, und auch in diesem Jahr, 1961, das erste Mal nach Grönland. Kaum war er aus Marokko zurückgekehrt, hatte ihn ein befreundeter dänischer Vogelkundler auf die Reise nach Grönland eingeladen. Da konnte er nicht nein sagen.

Werner Schwarz reiste so einfach wie möglich, Hotels hat er sich kaum geleistet. Die Reisen hätte er sich wohl auch nicht wirklich leisten können, das Geld dafür muss er sich jeweils irgendwie zusammengekratzt haben. Gar nicht günstig war auch das Fotografieren, die Farbfilme, mit denen er arbeitete, waren im Vergleich mit der damals noch weitgehend geläufigen Schwarz-weiss-Fotografie sehr teuer. 1962 musste ihm die Schweizer Botschaft das Geld für das Rückreise-Ticket von einer viermonatigen Indienreise vorschiessen. Oft hat er sich unterwegs mit Porträt-Zeichnungen ein bisschen etwas dazu verdient. Aber eigentlich reiste er mit nichts. Nur er, sein Fotoapparat, und sein grosses Herz.

Werner Schwarz war zweifellos ein Unsteter. Er brauchte das Reisen, sonst hätte er es daheim nicht ausgehalten. Das Reisen war ihm mehr als nur ein Entdecken der Welt, es war ein sich Einverleiben dessen, was sich ihm darbot in fremden Gesichtern und Landschaften, als wäre dies sein eigentliches Lebenselixier. Er ist in die Welten, die sich ihm öffneten, wie ein grosses Kind eingetaucht, einfach neugierig, aber sonst ganz unbelastet, fast naiv. 1961 zum Beispiel, als er in Marrakesch Zugang bekam zu den Feierlichkeiten im Rahmen der Krönung von Hassan II. Eine geheimnisvoll vibrierende Exotik zieht sich durch seine Bilder – er hat dort viel fotografiert, kein anderes Ereignis in seinem fotografischen Nachlass ist so breit dokumentiert –, als hätte er für einen Moment hinter einen Vorhang geschaut, der sonst für Augen wie die seinen verschlossen bleibt.

Gern hat er sich, wo auch immer, auf Märkten unter die Leute gemischt. Er ist dort jeweils aufgefallen, die Passanten schauen zu ihm und lachen oder machen grosse Augen, aber sie lassen ihn gewähren, als wäre er einer von ihnen. So muss es überall gewesen sein, wo er hingekommen ist. Die Fotografien von Werner Schwarz sind nicht Reisenotizen, wie man sie oft sieht. Es sind Begegnungen. Die Menschen, die er fotografierte, haben ihn Einblick nehmen lassen in ihren Alltag und ihre Arbeit, sie tun das ganz selbstverständlich. Auch wenn sie fürs Porträt posieren, bleiben sie bei sich.

Man fragt sich oft beim Betrachten dieser Bilder, wie es zu der Nähe hat kommen können. Man fragt sich das bei den Bauern im Atlas-Gebirge oder den Näherinnen in der indonesischen Textilfabrik, bei der jungen, stolzen Italienerin oder bei der alten Frau in Grönland, die mit einer Ruhe ins Weite schaut, die nichts mehr erschüttern kann. Gewiss, es ist das Einfühlungsvermögen von Werner Schwarz, das diese Nähe ermöglichte. Aber es ist auch die Zeit. Es ist die Zeit vor dem Massentourismus, als der Handharmonikaspieler im italienischen Städtchen am Meer noch nicht im Auftrag des Tourismusbüros musizierte, sondern weil es ihm Spass machte. Es tönt jetzt fast ein bisschen blöd, aber es ist halt so: Man hatte damals ganz einfach noch mehr Zeit, sich näher zu kommen, damals, in den Jahren vor den prallgefüllten Rundreiseprogrammen und der digitalen Bilderschwemme. Man hatte mehr Zeit, und man hatte – bitter, das sagen zu müssen – wohl auch noch mehr Lust, einander kennenzulernen, über alle Grenzen hinweg.

Der fotografische Nachlass von Werner Schwarz befindet sich im Archiv der 1994, in seinem Todesjahr, gegründeten Stiftung Werner Schwarz. In einem Holzschrank in einem Archivraum im Liebefeld. Die Bilder, überwiegend 6×6-Diapositive, sind in nach Ländern oder Kontinenten beschrifteten Filmschachteln geordnet. Nähere Angaben zu den Bildern fehlen. Die einzige verlässliche Quelle ist eine Aufreihung und Beschreibung der Reisen von Werner Schwarz aus dem Jahr 2004 durch Rosmarie Finger.

Die Verortung der Bilder ist das eine. Ihr technischer Zustand das andere. Zahlreiche Aufnahmen sind in metallenen oder sonst kompakten Rähmchen gefasst. Die Scans der Bilder, die Vorlagen der in der Ausstellung präsentierten Fotografien, wurden in den meisten Fällen durch die Gläser der Bilderrahmen hergestellt. Dies zum Schutz der Bilder: Hätte man sie aus den Rähmchen genommen, hätten ihre verklebten Ränder zuerst in einem aufwändigen Verfahren gereinigt werden müssen, damit es zu keinen Verletzungen der Diapositive kommt.

Mit anderen Worten: Der fotografische Nachlass von Werner Schwarz harrt noch der professionellen technischen und inhaltlichen Aufarbeitung. Eine erste kleinere Porträt-Ausstellung 2018 in der MAZ-Galerie in Luzern und nun die Retrospektive hier im Kornhausforum sind ein Anfang. Die Aufarbeitung wäre eigentlich eine öffentliche Aufgabe. Aber in der Kulturförderung ist Fotografie ein Stiefkind, in der direkten Unterstützung ebenso wie im Erhalt des Bestands. Dabei wäre die Sicherung des fotografischen Gedächtnisses eine kulturpolitisch relevante Aufgabe, der Denkmalpflege nicht unähnlich.

Für die Ausstellung wurden sämtliche heute verfügbaren Aufnahmen von Werner Schwarz gesichtet. Entweder hat Schwarz nicht immer fotografiert – ab den Siebzigerjahren arbeitete er vermehrt mit Schmalfilm –, oder es sind Reisebilder verloren gegangen. Es liegen jedenfalls von lange nicht allen Reisen Original-Fotografien vor. Die in der Ausstellung abgedeckten Gebiete entsprechen ziemlich genau der Gewichtung des Bestands: Hauptthemen sind Italien, Marokko, Indien, Indonesien, Grönland.

Bei allen Einschränkungen der Aufnahmeorte und technischen Voraussetzungen: Eine fotohistorische Entdeckung sind die Reisebilder – ist dieser schmale, edle Nachlass – allemal. Da herrscht eine Unmittelbarkeit, die nichts Gestelltes hat, die einfach stimmt in der Balance des Blicks zwischen dort und hier.

Eine Authentizität, die viel mit der Zeit zu tun hat, von der sie erzählt, eine, ich wage es fast nicht zu sagen, eine Unschuld, die tief berührt.