Eine Unbequeme verlässt die Kirche

von Rita Jost 4. November 2021

Als sie 2013 in einer Radiosendung sagte, sie glaube nicht an Gott, war Ella de Groot auf einen Schlag eine gefragte Gesprächspartnerin. Nun geht die kritische Pfarrerin der Kirchgemeinde Muri-Gümligen in Pension. Wir haben sie interviewt.

Ella de Groot, Sie sind in Holland aufgewachsen, in einem streng religiösen Haus und haben nach einer Wirtschaftsmatura Theologie studiert. Warum Theologie?

Ich bin mit biblischen Geschichten gross geworden, die man nicht hinterfragen durfte. Meine Mutter sagte: das muss man einfach glauben. Ein Todesfall hat mich dann mit der klassischen Theodizeefrage, der Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, konfrontiert: Warum lässt Gott einen jungen Menschen sterben? Warum lässt er das zu? Deshalb wollte ich Theologie studieren.

 

Mit welchem Ziel?

Ich wollte ausdrücklich nicht Pfarrerin werden. Mich interessierte die Theologie als Wissenschaft. Ich wollte meine eigenen Fragen beantworten können, mehr wissen und forschen.

 

Wie haben Sie das Studium in Holland erlebt?

Zu Beginn musste ich – wie alle – ein Glaubensbekenntnis unterschreiben, sonst wäre ich nicht zugelassen worden. Ich machte es nur widerwillig. Aber das Studium an der theologischen Fakultät in Kampen (NL) war dann kritisch, politisch. Wir durften alles hinterfragen. Die personale Gottesvorstellung hatten viele schon abgelegt. Viele meiner Mitstudierenden sind später progressive, kritische Theolog*innen ausserhalb der Kirche geworden.

 

Wegen ihrer Dissertation kam Ella de Groot in den Achtzigerjahren in die Schweiz. Noch als Assistentin an der Uni Bern wurde sie Mutter. Sie hängte ihre Stelle an der Uni an den Nagel, liess ihre Doktorarbeit liegen und übernahm Pfarrerstellvertretungen. Der Tod eines jungen Vaters gleich zu Beginn ihres Berufslebens, sein letzter Wille und der ganz andere Wunsch seiner sechsjährigen Tochter prägten sie nachhaltig. Die junge Pfarrerin, selber Mutter, stellte sich auf die Seite des Lebens, gab ihm mehr Gewicht als «dem letzten Willen eines Verstorbenen».

 

Das war das – nachträglich betrachtet – erste Auflehnen gegen Konventionen. Brauchte es Mut dazu?

Ich war zwar noch jung, aber ich spürte: Es geht doch um die Leute, die weiterleben. Ich habe die Mutter bestärkt, auf die Tochter zu hören. Das war ein Anfang. Seither frage ich die Hinterbliebenen: «Was sind eure Wünsche?» Es geht ja um das Leben, das Weiterleben der Hinterbliebenen.

Der Himmel ist leer.

Nach der Zeit im Seeland arbeiteten Sie als Katechetin in Wohlen, später wurden Sie Gemeindepfarrerin in Muri-Gümligen. 2013 sorgten Sie mit einer Religionssendung auf SRF schweizweit für Aufsehen. Die Sendung trug den Titel «Hört auf zu glauben!». Eine Provokation. 

Dieser Sendetitel war eine journalistische Verkürzung. Eigentlich habe ich gesagt: «Hört auf zu glauben, dass es Wahrheiten gibt.» Aber, ja, klar, der Titel hat provoziert. Aber die Aussage entspricht meiner Überzeugung. Alles, was wir über «oben» sagen, kommt von «unten». Unsere Glaubensvorstellungen sind menschliche Ideen. Man sagt mir dann immer, es gebe eben Offenbarungen. Aber ich sage: auch Offenbarungen sind Deutungen von Menschen. Ich glaube nicht an einen Gott im Himmel. Der Himmel ist leer.

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Wie hat Ihre Kirchgemeinde, wie haben die Kollegen damals reagiert?

Meinen Kirchgemeinderat hatte ich vor der Ausstrahlung informiert. Ich habe gesagt: Ich werde am Radio über mein Gottesbild sprechen. Und ich werde offen meine Meinung sagen. Ihr kennt mich, ich bin eure Pfarrerin, wenn ihr nicht wollt, dass es ausgestrahlt wird, dann müsst ihr es jetzt sagen. Aber mit einer Ausnahme standen alle zu mir. Nach der Sendung gab es unendlich viele Reaktionen. Der Tenor war: Endlich spricht eine Pfarrperson aus, was wir denken. Aber es gab natürlich auch Stimmen, die meinten: «Eine Pfarrerin darf das nicht sagen».

 

Und was antworteten Sie?

Ich kann nur sagen: wenn eine Pfarrperson nicht sagen darf, was sie denkt, dann kann sie nicht authentisch bleiben. Das ist für mich ein Grund für die vielen Burnouts in unserem Beruf.

Ich habe nie behauptet, dass mein Gottesbild neu ist.

Ein Berufsverbot gab es ja nicht, aber wie reagierte die Kirchenleitung?

Ich bekam ein Telefon von der Sekretärin des Synodalrats. Sie sagte mir: Ella, jetzt bist du zu weit gegangen. Du hast bei der Ordination versprochen, dass du an den dreieinigen Gott glaubst. Meine Antwort war: Gesteht ihr mir nicht zu, dass ich mich in 23 Berufsjahren entwickeln kann? Ein Gespräch mit dem Synodalratspräsidenten kam leider nicht zustande.  Aber das Pfarrkollegium in Muri stand zu mir.

 

Es gab auch einige, die sagten: neu ist das ja nicht, es glaubt ja heute kein Erwachsener mehr an den bärtigen Gott im Himmel.

Ja, einige Kollegen sagten das, aber sie machten trotzdem einen Bogen um mich herum. Oder sie haben mich belächelt. Ich habe ja nie behauptet, dass mein Gottesbild neu ist. Neu war nur, dass es jemand von der Kanzel sagt.

 

Wie spricht eine Theologin, die nicht an einen personalen Gott glaubt, ein Gebet? An wen richtet sie ihre Bitten?

Das «Unser Vater» kann ich beten, wenn es gewünscht wird. Es ist ein biblischer Text aus dem Evangelium. Meine Gottesdienste beginne ich mit einem Gebet in der Stille. Das ist mir wichtig, und auch wohltuend für mich. So können alle zur Ruhe kommen und wir nehmen uns und unserer Zugehörigkeit zur Welt bewusst wahr.
Gott ist der Begriff, das Symbol für die Erfahrung, dass ich ‚gerufen‘ werde, tief bewegt und zum Handeln, zum Hinschauen und Hinhören bereit bin. Daraus kann ein Gebet entstehen, in dem ich aktuelle Ängste und Sorgen in der Gesellschaft formuliere. Ich benenne, was lebt und real ist.

 

Und feiert die Gemeinde bei Ella de Groot auch Abendmahl?

Ja, aber etwas anders als andernorts. Ich lade die Gemeinde ein zu einer Begegnung an kleinen Stehtischchen. Dort gibt es Brot, Wein und Wasser. Dann darf gesprochen werden. Wir möchten im Teilen, im gemeinsamen Essen und Trinken den Geschmack von Frieden erfahren. Der Organist spielt. Es entsteht immer eine stimmungsvolle Feier. Aber eine Formulierung wie «das ist mein Leib» gibt es bei mir nicht.

 

Aber einen Segen gibt es am Schluss?

Ich segne ohne die Anrufung von Gott. Ich sage zum Beispiel: «alles, was uns miteinander verbindet, alles, was die Liebe stärkt, komme über und durch uns in die Welt.»
Ich ziehe solche Formulierungen vor. Auch das Votum, die Begrüssungsformel, spreche ich nicht «im Namen Gottes». Das kann ich nicht. Das hiesse ja, mit einer für mich nicht stimmigen Aussage die Menschen auf einen falschen Weg zu setzen.

 

Haben Sie eine Vision für eine Kirche von morgen?

Meine Vision ist ein leerer Raum, ohne Bänke, dafür mit langen Tischen, wo man sich trifft, sich gegenübersitzt, einander in die Augen blickt, miteinander spricht.

 

Gott ist Beziehung, haben Sie es einmal formuliert. Ist das Ihre Überzeugung?

Davon bin ich auch wieder etwas abgekommen. Heute sage ich: Gott ist das reale Leben. Es gibt Momente im Leben – wunderschöne und tief traurige – wo wir von der Wirklichkeit so erfasst sind, dass wir «berührt» werden, dass wir «das Göttliche» spüren. Unsere ganze Wirklichkeit beinhaltet diese Momente, die uns ansprechen und herausfordern.

 

Einigen ist das aber zu profan.

Ja, das ist es. Ich trenne nicht zwischen profan und heilig. Wir müssen neu deuten. Wir müssen auf die Geschichten hören, sie aber in unser heutiges Leben setzen.

 

Würden Sie eigentlich heute nochmals Theologie studieren?

Ja, ganz klar ja! Vielleicht auch Medizin. Aber Theologie ist ein genialer Beruf. So gross, so vielseitig, und breit. Aber ich würde wohl eher wieder in Holland studieren.