Eine ukrainische Jugendjazzband belebt die Schweizer Jazzszene

von Franziska Isliker 26. Mai 2022

Ein moderner Wohnblock im ländlichen Niederscherli ist seit dem 23. März das neue Zuhause der «First All-Ukrainian Youth Jazz Band». Die 16 jungen Musiker*innen sind zwischen 14 und 20 Jahre alt und stammen aus unterschiedlichen Gegenden der Ukraine. Wie sind sie aus dem Kriegsgebiet im beschaulichen 2000-Seelen-Dorf in der bernischen Provinz gelandet?

Irina Frenkel, die umtriebige Leiterin des Instituts für Kulturpolitik der ukrainischen Regierung, die das innovative Projekt einer Jugendjazzband initiiert hat, empfängt zum Kaffee im hellen, geräumigen Wohnzimmer mit Ausblick auf die ländliche Idylle und erzählt über die Anfänge des Projekts. Anstelle von Sirenenalarm und Artilleriefeuer besteht die Geräuschkulisse hier aus beruhigendem Kuhglockengeläute und dem gelegentlichen Glockenschlag der Dorfkirche. An diesem Ort konnten die Jugendlichen nach den traumatischen Erlebnissen in ihrer Heimat in den letzten Wochen etwas zur Ruhe kommen.

Gegründet wurde das Jugendorchester im Sommer 2021 im Rahmen des 25. Jubiläums des Internationalen Jazzfestivals von Winnyzja mit dem Ziel, jungen Jazzmusiker*innen die Möglichkeit zu bieten, ihr kreatives Potenzial auf der grossen Bühne zu zeigen. In einem öffentlichen Wettbewerbsverfahren wurden besonders talentierte junge Musikstudent*innen aus der ganzen Ukraine ausgewählt und unter der professionellen Leitung hochkarätiger Jazzmusiker*innen zu einer Band zusammengeführt. Während mehrerer Monate fanden im Rahmen des Kunstresidenz-Projekts «Jazz Not School» vor Ort und via Zoom intensive Proben statt. Im Oktober erfolgte der krönende Abschluss: ein Auftritt am «Vinnitsya Jazzfest».

Im Frühling und Herbst dieses Jahres wären Konzerte in verschiedenen ukrainischen Städten geplant gewesen.

Berühmtester Mentor des Projekts ist der US-amerikanische Jazz- und Blues-Sänger Ray Brown Jr., Sohn der legendären Jazzgrössen Ray Brown und Ella Fitzgerald. Er ist mit einer Ukrainerin verheiratet und stand in der Ukraine schon wiederholt auf der Konzertbühne. Im Frühling und Herbst dieses Jahres wären weitere Konzerte der Jugendjazzband in verschiedenen ukrainischen Städten geplant gewesen. Konzertprogramme für die Teilnahme an internationalen Festivals und Tourneen in der Ukraine und im Ausland waren in Vorbereitung. Doch die russische Invasion der Ukraine machte all diese Pläne zunichte. Nun ging es zunächst einmal darum, die Jugendlichen in Sicherheit zu bringen.

Unterstützt durch Schweizer Stiftung

Als absoluter Glücksfall für die Band erwies sich ein Kontakt mit der artasfoundation, den eine georgische Bekannte von Irina vermittelte. Die aus Spendengeldern finanzierte Schweizer Stiftung engagiert sich seit 2011 für Friedensförderung durch Kunst und hat in Zusammenarbeit mit Kunstschaffenden und lokalen Partnerorganisationen bereits zahlreiche Kunstprojekte in konfliktbetroffenen Regionen – insbesondere im Südkaukasus, aber auch in der Ukraine – realisiert. Überdies erforscht artasfoundation gemeinsam mit der Zürcher Hochschule der Künste das Potenzial künstlerischer Initiativen zur Transformation gewaltvoller Konflikte.

Irina Frenkel lobt die rasche und professionell organisierte Unterstützung durch die Geschäftsleitung der Stiftung. Innert weniger Tage nach der ersten Kontaktaufnahme sei es gelungen, ein Hilfsprojekt auf die Beine zu stellen, das die Evakuierung der Jugendlichen in die Schweiz und die Finanzierung eines Studienaufenthalts für die Dauer von drei Monaten sicherstellte. Die Kosten für die Miete und den Lebensunterhalt der Jugendlichen werden vollumfänglich von der Stiftung getragen.

Ein schwerer Abschied

Am 23. März war es soweit. Die Bandmitglieder versammelten sich in der zentralukrainischen Stadt Winnyzja und traten von dort per Bus ihre Reise in die Schweiz an. Bis zur polnisch-ukrainischen Grenze mussten über 400 km zurückgelegt werden, die Route wurde zum damaligen Zeitpunkt aber als relativ sicher eingeschätzt.

Journal B unterstützen

Unabhängiger Journalismus kostet. Deshalb brauchen wir dich. Werde jetzt Mitglied oder spende.

Die Zugfahrt der Jugendlichen von ihren jeweiligen Heimatorten nach Winnyzja war da hingegen riskanter. Alles wurde sehr kurzfristig organisiert, da Informationen über Bahnverbindungen in der Regel erst wenige Stunden vor der Abfahrt über sichere Kommunikationskanäle wie Telegram bekanntgegeben werden. Wie der Raketenangriff auf den Bahnhof im ostukrainischen Kramatorsk gezeigt hat, schreckt Russland nicht vor Anschlägen auf flüchtende Zivilisten zurück.

Am beschwerlichsten war die Reise für Sonya, die 18-jährige Pianistin aus Odessa. Ihre Heimatstadt wurde am Tag der Abreise bombardiert, was ihre rechtzeitige Ankunft in Winnyzja beinahe vereitelt hätte.

Die Jugendlichen wurden auf ihrer Reise von Bandmanagerin Kristina begleitet. Die 30-jährige Juristin hatte bereits als Teenager angefangen, für das Winnyzja Jazzfestival zu jobben. Nun wohnt sie in Niederscherli mit den jungen Musiker*innen zusammen, organisiert Proben und Auftritte der Band und leistet auch im Alltag vielfältige Unterstützung.

Besonders bitter war es, die männlichen Bandmitglieder im wehrfähigen Alter zurückzulassen.

Kristina erzählt, wie schwer ihnen allen die Entscheidung gefallen sei, ihr Heimatland zu verlassen. Doch angesichts des zunehmend brutalen Verlaufs des Kriegs seien sie von ihren Eltern zur Flucht gedrängt worden. «Sonyas Mutter hat mir beim Abschied gesagt, ich soll ihre Tochter mit allen Mitteln davon abhalten, zurück in die Ukraine zu reisen, wenn sie vom Heimweh geplagt in den nächsten Zug steigen will», erzählt die Bandmanagerin.

Doch nicht nur der Abschied von Familie und Freunden fiel den Jugendlichen schwer. Besonders bitter war es auch, die männlichen Bandmitglieder, die über 18 und somit im wehrfähigen Alter sind, zurückzulassen. Einige von ihnen kämpfen zurzeit in der ukrainischen Territorialverteidigung. Zum Schlagzeuger Oleksy ist der Kontakt seit mehreren Wochen abgebrochen.

Drei WGs unter einem Dach

Inzwischen haben sich die Bandmitglieder jedoch in der Schweiz gut eingelebt. Irina freut sich, ihre «Kinder», wie sie die jungen Musiker*innen liebevoll nennt, wieder lachen zu sehen. «Die ersten Tage nach der Ankunft verliefen noch etwas chaotisch, doch mit Improvisationstalent konnten wir die drängendsten Probleme meistern», berichtet Irina. Die ersten Bandproben etwa wurden im nahegelegenen Wald abgehalten. Ein geeigneter Übungsraum stand noch nicht zur Verfügung. Inzwischen dürfen die Jugendlichen im Kirchgemeindehaus proben.

Neben den Bandproben nehmen die jungen Musiker*innen seit einigen Wochen regelmässig an Masterclasses der Hochschule der Künste in Bern teil. Gleichzeitig werden sie weiterhin von ihren Musiklehrer*innen in der Ukraine per Zoom unterrichtet und sie beteiligen sich am Online-Unterricht ihrer jeweiligen Musikhochschule.

Die Jugendlichen leben in Niederscherli in drei verschiedenen Wohngemeinschaften unter einem Dach. «Wir sind wie eine Familie zusammengewachsen und unterstützten uns gegenseitig», erzählt Kristina. Die älteren Bandmitglieder nehmen die jüngeren unter ihre Fittiche und alle haben ihr «Ämtli». «Zum Glück kann Kristina so gut kochen – ich übernehme lieber den Abwasch», sagt Sonya lachend.

Auftritt am Internationalen Jazzfestival Bern

Der Studienaufenthalt in der Schweiz soll den jungen Jazzmusiker*innen neben der Fortsetzung ihrer musikalischen Ausbildung auch die Möglichkeit bieten, Konzerterfahrung zu sammeln und sich so musikalisch weiterzuentwickeln. In den letzten Wochen haben sich erfreulicherweise bereits mehrere Auftrittsmöglichkeiten für die Band ergeben. Das absolute Highlight war bislang die Teilnahme am Internationalen Jazzfestival Bern.

Während im Marian’s Jazzroom Jazzmusiker*innen von Weltrang auftreten, bietet das «Zelt» im Park des Hotels Innere Enge jeweils Jazzstudent*innen aus Bern und New York eine musikalische Plattform. Da eine Jugendjazzband aus New York ihren Auftritt Mitte April kurzfristig absagen musste, bot Festivalleiter Benny Zurbrügg den ukrainischen Musiker*innen an, diese Lücke im Programm zu füllen. Das bedeutete, an fünf Tagen hintereinander jeweils drei Sets zu spielen – eine gewaltige Herausforderung für die noch sehr jungen Musiker*innen mit wenig gemeinsamer Konzerterfahrung.

Trotz der kurzen Vorbereitungszeit meisterten die ukrainischen Jugendlichen diese Herausforderung mit Bravour. Während am ersten Abend einige der Soli noch etwas holprig daherkamen, war der Auftritt am letzten Abend nahezu perfekt gelungen. Benny Zurbrügg zeigt sich beeindruckt von der raschen Steigerung der Qualität und Professionalität der Gigs: «Es ist eine Freude zu sehen, wie sich die junge Jazzband innert weniger Tage weiterentwickelt hat.»

Die Sängerin Anastasia verzauberte das Publikum nicht nur mit Jazzsongs, sondern auch mit ukrainische Volksliedern.

Auch das Publikum war begeistert. Die Band gab bekannte Jazzstandards aus ihrem Repertoire zum Besten, darunter «Fly Me To The Moon», «Mas Que Nada» und «Blue Skies». Dank dem Wechsel zwischen grösseren und kleineren Formationen und einer Abfolge von gelungenen Soli der verschiedenen Bläser erhielt der Auftritt eine abwechslungsreiche Dynamik.

Durchgehend im Einsatz waren Sonya am Klavier und Schlagzeuger Juri, der vor wenigen Tagen seinen 18. Geburtstag gefeiert hat. Sonya gab in einem Solo auch einen Einblick in ihr Talent als klassische Pianistin. Besondere Akzente setzte die umwerfende Sängerin Anastasia aus Krivy Rig, die das Publikum nicht nur mit Jazzsongs, sondern auch mit ukrainischen Volksliedern verzauberte.

Bandmanagerin Kristina führte, eingehüllt in eine ukrainische Nationalflagge, als Moderatorin durch den Abend und gab auch einige Anekdoten aus dem Leben der Musiker*innen und ihrer Flucht in die Schweiz preis. So erzählte sie zum Beispiel, wie Artem, der 17-jährige Trompeter mit dem verschmitzten Bubengesicht, derart überstürzt aus Kiew fliehen musste, dass er, einzig mit seiner Trompete unter dem Arm und ohne jegliches Gepäck in der Schweiz ankam.

Nach dem anstrengenden Konzertmarathon freuten sich die erschöpften Bandmitglieder zunächst einmal darauf, auszuschlafen und gemeinsam das orthodoxe Osterfest zu feiern. Zufrieden waren sie nicht nur mit ihrer gelungenen Darbietung, sondern auch mit den Spendengeldern in der Höhe von 3’000 Franken, die anlässlich der Konzerte im Zelt für die Beschaffung eines Krankenwagens für die Ukraine zusammengekommen sind.

Was bringt die Zukunft?

In den Monaten Mai und Juni sind bereits weitere Konzerte in verschiedenen Städten der Schweiz geplant. Am 16. Juni 2022 wird die Jugendjazzband erneut in Bern auftreten, und zwar im Yehudi Menuhin Forum, wo im Mai auch Konzerte für den Frieden mit Musikern aus der Ukraine und aus Russland stattgefunden haben.

Der Konzertkalender der «All-Ukrainian Youth Jazz Band» ist somit für die nächsten Wochen schon ziemlich gut gefüllt. Doch wie sieht die mittel- und längerfristige Zukunft der Jugendjazzband aus? Es steht die bange Frage im Raum, wie es nach dem 30. Juni weitergeht, wenn die Finanzierung durch die artasfoundation ausläuft.

Selbst im Bombenhagel gibt es vereinzelte Lichtblicke für die Kultur.

Niemand weiss, wie lange der Krieg noch andauern und welchen Ausgang er nehmen wird. Es ist somit völlig offen, wann die Jugendlichen in ihre Heimat zurückkehren können. Die meisten werden sich vermutlich dafür entscheiden, länger in der Schweiz zu bleiben und ihre Ausbildung hier abzuschliessen. Die Hochschule der Künste Bern hat ihnen bereits eine kostenlose Teilnahme an Musiktheorie- und Ensemble-Fächern zugesichert.

Da in der Ukraine der Fokus an den Musikhochschulen stark auf die klassische Musik ausgerichtet ist und bislang erst wenige Studienprogramme im Jazzbereich angeboten werden, bietet die Schweiz mit ihrer vielseitigen Jazzszene und einer Reihe von renommierten Jazzschulen den jungen Musikern interessante Perspektiven.

Irina ist zuversichtlich, was die Zukunft ihrer Schützlinge angeht. «Im Kulturmanagement muss man optimistisch bleiben», erklärt sie. Zurzeit sei das kulturelle Leben in der Ukraine zwar praktisch zum Stillstand gekommen, doch sobald der Krieg beendet sei, würden die aufgegleisten Projekte wieder an die Hand genommen. Und selbst mitten im Bombenhagel gibt es vereinzelte Lichtblicke für die Kultur. So fand Ende März im ostukrainischen Charkiw das jährliche Musikfest statt, obwohl die zweitgrösste Stadt der Ukraine besonders hart von den Zerstörungen des Krieges getroffen wurde. Statt in Konzertsälen wurde dieses Jahr in Bunkern und U-Bahnstationen musiziert. Die Botschaft lautet: Das Leben geht weiter – trotz allem.