Eine kollektive Geschichte der Schweiz

von Janine Schneider 23. August 2024

Sommerserie: Phänomen Kollektive Kollektive sind ein modernes Phänomen? Falsch gedacht. Kollektive Organisationsformen gibt es seit Jahrhunderten. Sie sind der rote Faden, der sich durch die Geschichte der Eidgenossenschaft zieht. Und sie bis heute prägt.

Schon einmal vom Dorf Törbel gehört? Das kleine Dorf im Oberwallis ist berühmt. Zumindest bei Fachleuten der Umweltgeschichte. Denn in Törbel ist Wasser ein kostbares Gut, über dessen Nutzung für Weiden und Gärten schnell gestritten werden könnte. Was aber nicht der Fall ist. Das kommt daher, dass die Wassernutzung genossenschaftlich geregelt wird. Wer wann Wasser aus den Suonen genannten Wasserrinnen verwenden darf, ist genauestens festgehalten.

In der Umweltgeschichte war man lange Zeit davon ausgegangen, dass solche gemeinschaftlich genutzten Ressourcen wie Wasser, Wald oder Weiden (auch «Commons» genannt), ohne individuelle Eigentumsrechte zwangsläufig übernutzt werden. Törbel bewies das Gegenteil. Die Forscherin Elinor Ostrom erhielt für ihre Forschung zu den «Commons», die sie anhand der Suonen des Walliser Dorfes und Beispielen aus anderen Weltgegenden untersuchte, den Nobelpreis. Sie leitete daraus acht Gestaltungsprinzipien ab, die eine nachhaltige Bewirtschaftung kollektiver Ressourcen ermöglichen, wenn sie befolgt werden.

Kollektive Organisation zur Selbsthilfe

Das Dorf Törbel ist beileibe kein Einzelfall in der Schweiz. Seit dem Mittelalter haben sich hier kollektive Institutionen als zentrale wirtschaftliche, politische und soziale Organisationseinheiten herausgebildet. Diese wurden allerdings nicht als «Kollektive» bezeichnet, sondern «Korporationen» oder «Genossenschaften» genannt. Sie entstanden überall dort, wo Menschen sich um ein gemeinsames Gut und seine Nutzung als Gruppe kümmern mussten.

Eine Suone in Nendaz. Dieses Bewässerungssystem war im ganzen Wallis verbreitet. (Foto: Artiom Vallat)

Bauern in den Alpen schlossen sich zusammen, um die Weidennutzung, das Heuen und die Wasserversorgung kollektiv zu organisieren, Käsereien wurden genossenschaftlich geführt, in den Alpentälern organisierte sich die Bevölkerung in sogenannten «Talschaften» und entwickelte kommunale Verfassungsstrukturen, um ein Rechtswesen und Beziehungen zu anderen Talschaften aufzubauen. In den Städten und Dörfern bildeten sich Ortsbürgergemeinden heraus, die sich um die Fürsorge für ihre Mitglieder kümmerten, wie beispielsweise auch die Burgergemeinde Bern, die – wie die meisten dieser Ortsbürgergemeinden – bis heute existiert.

Das sind Selbsthilfeprojekte. Es gibt keinen Staat, der sich kümmert. Also organisiert man sich in lokalen, kommunalen Strukturen.

In der alten Eidgenossenschaft wimmelte es von derartigen Korporationen. Alle schufen und verwalteten kollektive Güter. Oftmals steht die Nutzung materieller Ressourcen am Anfang: Holz, Weiden, Fischereirechte, der Zuchtstier der Gemeinde oder auch die Nutzung und Beteiligung an Infrastruktur wie Backstuben, Brücken oder Suonen zur Bewässerung.

«Das sind eigentlich Selbsthilfeprojekte», erklärt Historiker Daniel Schläppi, der seit Langem zu «historischen Commons» in der Schweiz forscht, wie er die verschiedenartigen Korporationen, Gemeinden und Genossenschaften nennt. «Es gibt keinen Staat, der sich um diese Dinge kümmert. Also organisiert man sich in lokalen, kommunalen Strukturen. Denn die Verwaltung solcher Güter funktioniert nur als Gruppe und nur in Kollaboration.»

Korporationen, die sich anfänglich um wirtschaftliche Belange kümmerten, entwickelten sich historisch zu politischen Gemeinden, die ihren Mitgliedern das Bürgerrecht verliehen. Nur Ortsbürger konnten in ihrer Gemeinde an politischen Entscheidungen teilhaben und kamen im Alter oder in Notfällen in den Genuss von Unterstützungsleistungen durch die Gemeinde. Andere Korporationen, wie zum Beispiel Zünfte, kümmerten sich um religiöse Belange wie Totengedenken – in der Frühen Neuzeit ein wichtiges Anliegen der Menschen.

Sonderfall Schweiz?

Solche korporativen Strukturen gab und gibt es nicht nur in der Schweiz. Der Deichbau in Ostfriesland ist beispielsweise bis heute korporativ organisiert, im zaristischen Russland teilte die bäuerliche Selbstverwaltung der Dörfer den einzelnen Familien alle paar Jahre neue Felder zu – damit alle gleichermassen von den guten Böden profitieren konnten. Die Schweiz ist also kein Sonderfall. Ungewöhnlich ist jedoch, dass die Kommunen so grosse Autonomie entwickeln konnten und zu Basisinstitutionen von Gesellschaft und Politik werden konnten.

«Diese Entwicklung», so Schläppi, «erklärt sich aus dem Umstand, dass es für ambitionierte Herrscher keine Bodenschätze und sonstige Reichtümer zu holen gab.» Den Zugang zu den militärisch bedeutsamen Alpenpässen – dem einzigen Schatz der eidgenössischen Orte – sicherten sich die europäischen Grossmächte über diplomatische Kanäle und Geldzahlungen.

Der Historiker Daniel Schläppi hat sich in seiner Forschung vertieft mit den «historischen Commons» in der Schweizer Geschichte auseinandergesetzt. (Foto: David Fürst)

Folglich habe es keine mächtigen Fürsten oder Königshäuser gegeben, die das Land besetzen und in ihr Territorium zu integrieren versuchten, erklärt der Historiker, «dies begünstigte die Entstehung und Konsolidierung korporativer Organisationen wie Talschaften, Dorfgemeinden und Städte, die unabhängig waren und über einen hohen Grad an Selbstbestimmung verfügten.»

Möglichst nicht prunken

So unterschiedlich Commons wie jene der Burgergemeinde in Bern, die einer Käserei im Emmental oder die der Suonenbewirtschaftung in Törbel auf den ersten Blick erscheinen mögen, so verfügen doch alle über charakteristische Gemeinsamkeiten. Ein zentrales Merkmal dieser Korporationen ist beispielsweise die politische Teilhabe und Entscheidungsfindung. «Es geht immer um Konfliktminimierung», erklärt der Historiker Schläppi. Entscheidungsgremien werden von den Mitgliedern der Korporative gewählt, wichtige Positionen im Turnus vergeben. Bedeutende Entscheidungen werden in der Vollversammlung gefällt.

Hierarchien und Machtgefälle gab es durchaus. Die Unterschiede durften einfach nicht zu gross werden.

«Das heisst nicht, dass alle gleich viel zu sagen hatten», stellt Schläppi klar, «aber es garantierte politische Teilhabe. Auch die, die mehr zu sagen hatten, konnten ihre Geschäfte nicht im Hinterzimmer abwickeln, sondern sie mussten ihre Diskussionen in der Öffentlichkeit der Versammlung führen.» In den Korporationen waren wechselseitige Beziehungsverhältnisse fest verankert. Um Entscheide durchzusetzen, mussten Bündnisse geschmiedet und Leute überzeugt werden.

Hierarchien und Machtgefälle gab es durchaus. In den grossen Städten waren diese in der Tendenz ausgeprägter und formalisierter als auf dem Land. So war innerhalb der Berner Burgergemeinde genauestens geregelt, welche Familien wieviel zu sagen hatten. «Aber – und das wurde teilweise sogar schriftlich festgehalten – die Unterschiede durften einfach nicht zu gross werden.»

So gab es beispielsweise in Bern Kleidervorschriften, die verhindern sollten, dass burgerliche Familien in allzu prächtigen Kleidern herumliefen. Prunk und Hervorstechen war verpönt, Bescheidenheit und Zurückhaltung waren die erwartete Norm. Eine Haltung, die uns vielleicht auch aus der heutigen Schweiz bekannt vorkommt. So war beispielsweise auch der Bau des Erlacherhofs in Bern seinerzeit eine Provokation– zu prächtig, zu patrizierhaft stach er unter den anderen Bauten hervor.

Der Erlacherhof wurde im Auftrag des Burgers Hieronymus von Erlach zwischen 1745 bis 1752 erbaut. Hier ein Bild aus den 1930er-Jahren. (Foto: Sammlung Hans-Ulrich Suter 884, Bern: Altstadt (untere); Junkerngasse 47, vor 10.02.1930, Burgerbibliothek Bern)

Wichtig sei ausserdem, dass Commons generationenübergreifende Projekt seien, erklärt Schläppi: «Die Nachkommen sollen die Errungenschaften der Vorfahren erben können. Das schafft Verbindlichkeit gegenüber dem sogenannten ‹Erbe der Ahnen›.» Und bestimme auch einen ganz spezifischen Umgang damit: «Man lebt nie auf Kosten der Substanz, sondern immer nur von den Erträgen.»

Sparen also, um das «Erbe der Ahnen» zu erhalten. Anders formuliert: Das Geld der Korporation gehört der Gemeinschaft und darf nicht leichtfertig ausgegeben werden. Das trifft nicht nur auf Geld zu, sondern auch auf Ressourcen wie Wasser und Wald, die in diesem Sinne nachhaltig bewirtschaftet werden müssen.

Wer nicht dazu gehört

Was hier auch anklingt: Der Kreis der Nutzniessenden war stets klar umrissen. Zentral für die Zugehörigkeit war, wie lange die Familie schon an einem Ort ansässig war. Die Abgrenzung gegen aussen veränderte sich jedoch im Laufe der Zeit. Waren im Mittelalter Gemeinden und Talschaften noch relativ durchlässige Strukturen, so schlossen sich die Bürgergemeinden im Verlaufe des 17. Jahrhunderts flächendeckend ab.

Elternlose oder uneheliche Kinder ohne Burgerrechte wurden auf dem Land verdingt.

Wer nun nach Bern oder auch in andere Gemeinden zog, wurde nicht als Bürger bzw. Burger aufgenommen, sondern galt als Zugezogener, als sogenannter «Hintersasse». Hintersassen konnten weder an politischen Entscheidungen noch an den Privilegien der Stadtbewohner teilhaben.

Bestes Beispiel dafür: Über dem Eingang zum Berner Generationenhaus, dem ehemaligen Burgerspittel in Bern ist eine goldene Überschrift eingraviert: «Christo in Pauperibus». Das bedeutet so viel wie: Dem Herrn dienen, indem man den Armen dient. Im Fall des Burgerspitals waren damit aber nur weniger wohlhabende Burgerinnen und Burger gemeint, nicht aber die Stadtbevölkerung ohne Bürgerrecht. Dasselbe gilt für das burgerliche Waisenhaus, in dem heute die Polizei untergebracht ist. Auch dieses stand nur für Waisenkinder aus Burgerfamilien offen. Die anderen elternlosen oder unehelichen Kinder wurden auf dem Land verdingt.

Kinder des Burgerlichen Waisenhauses, aufgenommen zwischen 1901 und 1911. (Foto: BBB FP.C.522, Burgerbibliothek Bern)

Nicht nur riegelten sich die Bürgergemeinden im Laufe der Zeit hermetisch ab, auch innerhalb der Gemeinde fanden Marginalisierungsprozesse statt. Die Gemeinden waren für die Fürsorge ihrer Armen zuständig – eine finanzielle Last, die viele Gemeinden nur ungern zu tragen bereit waren. Deshalb wurde Mitgliedern, die «armengenössig» wurden, ihr Bürgerrecht entzogen. Als «Heimatlose» verloren sie jegliche Privilegien und Sicherheiten.

Auch wer zu lange nicht an seinem Heimatort gewohnt hatte, büsste das Bürgerrecht ein. Frauen, die in eine neue Gemeinde einheirateten, verloren das Bürgerrecht ihrer Heimatgemeinde, erhielten das neue jedoch oft nur gegen die Zahlung einer erheblichen Summe Geld.

Das korporative Erbe der Schweiz

Als 1798 napoleonische Truppen in der Schweiz einmarschierten, gab es in jeder Gemeinde der Eidgenossenschaft sowohl Menschen mit Bürgerrecht als auch Zugezogene ohne Rechte und Privilegien. Man traute sich nicht, die Bürgergemeinden abzuschaffen. Also wurden kurzerhand Einwohnergemeinden gegründet. Alle Einwohner eines Ortes erhielten nun dieselben Wahl- und Stimmrechte. Die Nutzung der Gemeindegüter wie Wald, Wiesen und so weiter blieb allerdings weiterhin den alteingesessenen Ortsbürgern vorbehalten. Fortan existierte in manchen Gemeinden eine Doppelstruktur, wenn die Einwohnergemeinden während der Restauration nicht gleich wieder ganz abgeschafft wurden.

Korporative Strukturen haben die schweizerische Demokratie im Prinzip fundamental begünstigt

Erst nach Gründung des Bundestaates 1848 kommt es nach und nach zur Güterausscheidung in den einzelnen Gemeinden: die Einwohnergemeinden kriegen nun auch Zugang zu gewissen Gütern. Damit nimmt die Bedeutung der Bürgergemeinden immer mehr ab. Bis heute bestehen sie allerdings noch in veränderter Form fort, wie zum Beispiel die Burgergemeinde in Bern. Auch andere Korporationen wie zum Beispiel Schwellengemeinden, Alpgenossenschaften, Seerettung und Feuerwehr bestehen in der Schweiz immer noch in grosser Zahl und erbringen weiterhin öffentliche Dienstleistungen für die Gesellschaft.

Die Burgergemeinde schaffte es, ihren Besitz bis heute zu bewahren. Hier eine Zeichnung des Burgerspittels von 1742, als er gerade neu gebaut worden war. (Bild: Nach dem Stich von Joh. Ludw. Nöthinger, 1742, Burgerbibliothek Bern)

Bis heute prägt das korporative Erbe also die Schweiz, wie wir sie kennen. Nicht zuletzt ist auch die schweizerische Demokratie stark davon beeinflusst, wie Schläppi erkennt: «Korporative Strukturen haben die schweizerische Demokratie, wie wir sie heute kennen, manchmal zwar auch behindert, aber im Prinzip fundamental begünstigt.» Die politische Teilhabe und Struktur der Korporativen hätten, so seine Argumentation, auch wenn sie nur einem gewissen Teil der männlichen Bevölkerung offenstanden, die politische Kultur vorbereitet, die dann zuerst in Form des Staatenbundes, dann des Bundesstaates fortgeführt wurde.

Lokale Autonomie hatte sich über Jahrhunderte etabliert und bewährt – bis heute ist deshalb der Föderalismus als Grundprinzip unangetastet geblieben. «Die schweizerische Demokratie lebt durch ihre Leistungsfähigkeit», so Schläppi. «Davon, dass man, wenn etwas in der Gemeinde nicht gut läuft, die Probleme an der Gemeindeversammlung zu Wort bringen kann. Auch wenn dann lange nichts passiert oder sogar das Falsche, generiert das politische Legitimität. In der Schweiz herrscht deshalb grosses Vertrauen in dieses Gemeinschaftshandeln.»

Und was haben heutige linke Kollektive in Bern nun mit diesen alten korporativen Organisationsformen der Schweiz gemeinsam? «Sehr viel», meint Schläppi, «sie wissen es nur nicht. Dabei könnten sie von historischen Commons sehr viel lernen. Kollektive Organisationsformen müssen nicht neu erfunden werden.» Ein zentraler Unterschied sei jedoch, wer zum Kreis der Beteiligten gehöre. Bei historischen Commons wie Bürgergemeinden oder Genossenschaften sei die Abgrenzung gegen aussen klar.

In der Schweiz herrscht grosses Vertrauen in dieses Gemeinschaftshandeln.

«Das sind Zwangsgemeinschaften, in die man hineingeboren wird», erklärt Schläppi, «bei modernen Kollektiven sind die Ränder immer perforiert. Aber ohne Grenzen geht es nicht. Diese können durchlässig sein. Aber ohne Reziprozität und wechselseitige Verpflichtungen unter den Mitgliedern, ohne, dass diejenigen, die profitieren auch etwas beitragen, geht es nicht. Diesen Grundsatz nicht einzuhalten, ist für Gemeinschaften zerstörerisch.»