An diesen Moment erinnert sich die Schweiz: Wie Staatspräsident Jiang Zemin beim Empfang vor dem Bundeshaus wutentbrannt am Bundesrat vorbeistürmte – ohne Gruss, ohne Nationalhymne. Erzürnt hatten ihn Exil-Tibeterinnen und -Tibeter und SympathisantInnen, die vom Dach des gegenüberliegenden Gebäudes ihre Trillerpfeifen und den Sprechchor «Tibet! Dialog» vernehmen liessen. Bundesrätin Ruth Dreifuss hatte die Zivilcourage, trotz sichtlich beleidigtem Staatsoberhaupt Chinas, Tibet in ihrer Rede anzusprechen. Es war einer jener Momente, als man stolz war auf die Regierung in Bern. Der diplomatische Eklat blieb einmalig, geschadet hat es den (wirtschaftlichen) Beziehungen Schweiz – China nicht, im Gegenteil. Und der Dalai Lama, das tibetische Oberhaupt, ist seither nicht mehr vom Bundesrat empfangen worden.
Vor dem Vergessen bewahren
Tendöl Namling ist eine jener rund 4000 Exil-Tibeterinnen und -Tibeter in der Schweiz. 1981, im Alter von 22 Jahren, floh sie zusammen mit ihrer Mutter und einer ihrer Schwestern aus ihrem Heimatland, lebt seither in Bern und hat sich mit einem Laden an der Münstergasse eine eigene Existenz aufgebaut. Ihre beiden Kinder haben studiert, das war der Mutter wichtig. Ihr selber blieb das Studium verwehrt. Als Kind konnte sie froh sein, dass die chinesische Besatzung sie für wenige Monate an die Schule gehen liess. Ihre Kindheit war Leiden, Entbehrung und Angst. Eine Angst, die Tendöl Namling noch heute in sich trägt, wie wohl alle Exil-Tibeterinnen und -Tibeter. Der Arm der chinesischen Machthaber ist lang, der Geheimdienst lauert überall.
Thérèse Obrecht Hodler, Journalistin und Autorin, hat ihre Geschichte im soeben erschienenen Buch «Eine Kindheit in Tibet» nacherzählt. Sie stützte sich dabei auf die Berichte Tendöls und ihren Familienmitgliedern und auf Archivrecherchen, um die Erinnerungen Tendöls chronologisch zu ordnen. Tendöl selber hatte sich gewünscht, ihre Geschichte mitzuteilen – nicht um ihretwillen, wie sie letzten Samstag an der überaus gut besuchten Vernissage in Bern sagte, sondern um das Schicksal Tibets vor dem allgemeinen Vergessen oder Verdrängen zu bewahren.
Der Dalai Lama flieht
1950, neun Jahre vor ihrer Geburt, war China in Tibet einmarschiert, das seit 1913 nach dem Zusammenbruch des chinesischen Kaiserreichs unabhängig, aber von keinem Land diplomatisch anerkannt worden war. Weltliches und geistiges Oberhaupt war der Dalai Lama, das Klosterwesen spielte bis weit in das 20. Jahrhundert eine überragende Rolle. Angesichts der kommunistischen Herrschaft in China ab 1949 begann Tibet aufzurüsten und sich zaghaft zu modernisieren. Man suchte Allianzen. Doch es war zu spät: In raschen Vorstössen kesselte die gut vorbereitete Volksbefreiungsarmee 1950 Tibets Truppen ein. Die offizielle Begründung des Einmarschs: Tibet sei ein Teil Chinas, dieses sei für Tibets Verteidigung verantwortlich und alle Verbindungen zu fremden Ländern müssten von der Volksrepublik geregelt werden. Den Truppen war eingeschärft worden, pfleglich mit der Bevölkerung umzugehen, was sie vorerst auch taten. Der Unmut gegen die Besatzung wuchs, es kam zu Protesten und einem Aufstand, der im März 1959 blutig niedergeschlagen wurde. Dem 23-jährigen Dalai Lama, anfänglich durchaus empfänglich für die Ideen des Kommunismus, gelang im selben Jahr die Flucht nach Indien, wo er heute noch lebt als geistiges Oberhaupt Tibets. Von nun an nahmen die chinesische Besatzung keine Rücksicht mehr – es kamen Entsendungen in den chinesischen Gulag, die «Umerziehung durch Arbeit», die Kulturrevolution und die Zerstörung der Klöster.
Strassenbau statt Schule
Just im Moment der Flucht Dalai Lamas wurde Tendöl Namling geboren. Ihren Vater, Paljor Jigme Namseling, wird sie nie kennenlernen. Der hochrangige tibetische Regierungsbeamte, grundsätzlich gegenüber Reformen der theokratischen, feudalistischen Strukturen aufgeschlossen, hatte sich in letzter Minute dem Aufstand der Khampa angeschlossen und musste nach Indien flüchten. Ein paar Monate zuvor hatte die Mutter ihre ältesten Töchter nach Indien in Sicherheit gebracht, wo sie fortan eine katholische Klosterschule besuchten.
In Lhasa lag die Mutter in Wehen, als chinesische Polizisten auftauchten, um sie zu verhaften: «Sie reissen die Bettdecke hoch, sehen Blut und lassen die Gebärende vorderhand in Ruhe» – verhaften aber später die Freundin der Mutter als Ersatz. Die Mutter wohnte fortan mit ihren drei jüngsten Kindern in Lhasa. Als «Klassenfeinde» war die Familie Namseling von der «Umerziehung durch Arbeit» besonders betroffen. Statt die Schule zu besuchen, musste Tendöl im Strassenbau arbeiten. Das private Eigentum wurde konfisziert. Das grosse Haus der Namselings wurde besetzt, die Mutter fand Unterschlupf bei ihrer Schwester, in deren Haus inzwischen ein Dutzend Familien wohnten. Als besonders traumatisch hat Tendöl die verordneten «Kampfsitzungen» in Erinnerung: Die Tibeter wurden gezwungen, sich allabendlich und stundenlang gegenseitig zu kritisieren, ihre «Schuld» einzugestehen und sich gegenseitig zu bespucken und zu verprügeln. «Kinder mussten gegen andere Kinder oder gegen ihre Eltern aussagen, Nachbarn gegen Nachbarn, ehemalige Bedienstete gegen ihre Hausherren.» Die Schläge führten zu körperlichen und psychischen Schäden. Die Grausamkeiten brannten sich in die Seele ein. Die kleine Tendöl begann, auch in ihrem Spiel laut zu schreien und mit einem Stock auf Gegenstände zu hauen.
«Tschangbi»
Erst wurde ihr Bruder Tenor verhaftet, dann ihre Mutter Choekyi. Der Bruder Tenor deshalb, weil er als Dreijähriger vom Dalai Lama als Inkarnation des 5. Rhado Rinpoche, eines heiligen Lamas der tibetischen Tradition, erkannt worden war. Und die Mutter galt als «aktive Konterrevolutionärin». Die 10-jährige Tendöl weinte und zerrte an der Kette, an der die Mutter bei ihrer Verhaftung angebunden war. Die Mutter rief: «Hör bitte auf, die Zacken schneiden in meine Haut.» Sporadisch durfte sie sie besuchen, das Gespräch musste mit dem Satz beginnen: Wir sind China dankbar, dass es aus einem schlechten einen guten Menschen macht.»
Tendöl verblieb vorerst bei ihrer Tante und wartete 10 Jahre auf die Rückkehr der Mutter. In dieser Zeit erfuhr das Mädchen Hunger, musste mitansehen, wie Menschen erschossen und in Massengräber geworfen wurden. «Tschangbi», der Begriff für öffentliche Hinrichtung, war das erste chinesische Wort, das das Mädchen lernte. Die Suche nach Essen beschäftigte Tendöl und ihre Schwester jeden Tag. Sie versteckten sich im Schweinestall der chinesischen Garnisonen und schöpften sich das Futter aus den Trögen in den Mund. Als sie 12 Jahre alt war, durfte Tendöl für ein paar Monate eine Schule in Lhasa besuchen. Sie erinnert sich vor allem an die Propagandalieder. Dann wurde sie auf den Strassenbau geschickt, begleitet von mehrheitlich chinesischen Jugendlichen, was Tendöl eine bessere Verköstigung bescherte als in tibetischen Arbeitslagern. Viele starben vor Erschöpfung und wurden an Ort im Boden verscharrt. Es begann die rücksichtslose, bis heute ungezügelte Ausbeutung und Zerstörung der Natur – wie überall, wo sich China niederlässt: Wälder wurden abgeholzt, Ödnis breitete sich aus. Die Hochebene Tibets ist ökologisch empfindlich, aber voller mineralischer Ressourcen. Heute verschmutzen die Abfälle aus Kupferminen die Gewässer einer Himalaya-Region, die den TibeterInnen heilig ist.
Tränen in den Augen, Freude im Herzen
Am 9. September 1976 starb Mao Zedong. Überall wurde Trauermusik gespielt, die Chinesen badeten in Tränen. Tendöl erinnert sich: «Uns war klar, dass wir Tibeter unbedingt auch weinen mussten, um Probleme zu vermeiden, obschon die Nachricht von Maos Tod in unseren Herzen eigentlich Freude auslöste.» Sie rieben sich Sand und Strassenstaub in die Augen und vergossen damit mindestens ebenso viel Tränen wie ihre Besatzer.
Tendöl war 20 Jahr alt, als die Mutter 1979 aus dem Gefängnis entlassen wurde. Einst eine blühende Schönheit, war sie vorzeitig gealtert und gezeichnet von der harten Arbeit und dem seelischen Leid. Zur selben Zeit wurde Tendöl erlaubt, eine Automechanikerlehre zu absolvieren. «Endlich durfte ich etwas lernen. Es war meine glücklichste Zeit in Tibet.»
Sie währte nicht lange: 1981 durfte die Mutter mit ihren beiden Mädchen ausreisen, nur der Sohn Tenor musste in Tibet bleiben – als Pfand für das Wohnverhalten der Ausreisenden. Bald darauf trafen sie im Kinderdorf Pestalozzi, das schon 1960 die ersten tibetischen Kinder aufgenommen hatte, mit den älteren Schwestern zusammen. Während Tendöl sich in Bern niederliess, zog es die Mutter nach Indien, in die Nähe Tibets und des Dalai Lama zurück. Drei ihrer Töchter eröffneten in der Schweiz Geschäfte: «Little Tibet» in Zürich, «Lhasa Boutique» in Bern. Sie verkaufen Gegenstände in schönsten Materialien und Farben aus Nepal, Bhutan und Indien – Klangschalen, Kissen, Paschminas, Salben der tibetischen Medizin.
Und Gebetsfahnen. Tendöl Namling, die zierliche Frau, empfängt mit einem freundlichen Lächeln die Besucherinnen und Besucher ihres Ladens. So heftig und rücksichtslos die Chinesen tibetische Kultur, Traditionen und Religiosität zu tilgen versuchten – es ist gerade dieser Anker, der Tendöl Namling das Überleben in der Fremde ermöglicht und sie vor Verbitterung bewahrt hat, sagt ihre Biografin Thérèse Obrecht Hodler. «Tendöl verspürt keinen Hass, aber Traurigkeit. Und sie zeigt ein grosses Engagement für die tibetische Diaspora und Solidarität mit ihrem Heimatland.»
In Tibet bleibt es währenddessen spannungsgeladen. Die Einwanderung vieler Chinesen und Chinesinnen förderte nicht nur die beabsichtigte Durchmischung, sondern auch Unruhen. Ein Reporter der Zeitschrift «Die Zeit» empfahl den chinesischen KommunistInnen eine Einsicht Friedrich Engels‘, Mitautor des Kommunistischen Manifests: «Eine Nation kann nicht frei werden und zugleich fortfahren, andere Nationen zu unterdrücken.»