Eine Heimat des Holzschnitts

von Christoph Reichenau 10. Januar 2024

Am Wochenende findet in Bern das traditionelle Galerien-Wochenende statt. Einen Akzent setzt die 50 Jahre alt gewordene Galerie Art+Vision mit 150 Ausstellungsplakaten aus der Gründungszeit.

Als sie vor 52 Jahren an die Junkerngasse 34 zogen, war nicht der Charme der Berner Altstadt der Grund dafür. Nein, Edith und Martin Thönen zogen einer Druckerpresse nach, einer mehrere hundert Kilo schweren, voluminösen Maschine, die Raum brauchte. Der Holzschneider und die Dekorateurin, beide aus Thun, hatten sich in Genf niedergelassen und dort geheiratet. Die günstig zu erwerbende Druckerpresse war ihre Chance gewesen, eine gemeinsame Arbeit anzufangen, der Ort war zweitrangig. Dass sich die Türe ausgerechnet gegenüber dem Erlacherhof öffnete, war reiner Zufall. Kein Zufall vielleicht, dass das Inserat für die Vermietung des Hauses ausgerechnet an Ediths Geburtstag in der Zeitung stand. Dass Thönens noch heute dort leben und arbeiten, verdanken sie und wir ihrem Durchhaltewillen und der Qualität ihres Tuns in einer Epoche, in der die Künste der Druckgrafik, der Typographie und des Designs vollkommen umgekrempelt worden sind.

Ein Atelier im Keller

«Es ist uns gut gegangen», konstatieren Edith und Martin Thönen nach einem halben Jahrhundert in Bern. Zum Parterreraum mit Martins Atelier kommt die Wohnung im ersten Stock und – anfänglich überraschend – der trockene Keller mit separatem Eingang von der Gasse. Der vollgestellte Keller erweist sich nach der Räumung als ideal, um Werke auf Papier auszustellen. 1973 eröffnet Edith Thönen die Galerie Art+Vision. Die Verfügbarkeit des Raums hatte dazu verlockt.

Edith Thönen, geborene Schaffer, gelernte Dekorateurin (wie etwa auch Claude Kuhn) gestaltete in Genf Schaufenster und Waren im «Comptoir des tissus et confections». Martin Thönen, Schriftsetzer, weitergebildet in vielen Drucktechniken, war Typograph und Grafiker in Moutier, Montreux und Genf gewesen, wo er unter anderen für den legendären Kunst-Verlag Skira wirkte. Als Künstler gewann er zweimal eines der begehrten Bundesstipendien für angewandte Kunst.

Lebendige Kunstszene

In den frühen 1970er Jahren lebte in der Altstadt eine vielfältige Kunstszene, oft in den Kellern der altehrwürdigen Gebäude. 1961 war das Theater «die Rampe» eröffnet worden, 1970 der Kunstkeller von Dorothe Freiburghaus, im gleichen Jahr das Kellerkino; es gab die Galerien von Werner Schindler, Martin Krebs, Verena Müller, die Aktionsgalerie, jene von Toni Gerber. Das Haus an der Postgasse 20 beherbergte damals wie heute zahlreiche Künstlerinnen und Künstler. Das Diskussionspodium «Junkere 37», schräg vis-à-vis der neuen Galerie war mit Sergius Golowin Treffpunkt der Nonkonformist*innen. Fredi Lerch hat den unruhigen Zeiten in seinem Projekt «NONkONFORM» zwei minutiös recherchierte Bände gewidmet.

Journal B unterstützen

Unabhängiger Journalismus kostet. Deshalb brauchen wir dich. Werde jetzt Mitglied oder spende.

Art+Vision startete im Juni 1973 mit einer Gruppenausstellung von Mitgliedern der Vereinigung «Xylon». Das griechische Wort bedeutet «Holz». Unter dem Titel hatten sich 1944 auf Initiative des Berners Emil Zbinden elf schweizerische Holzschneider zusammengeschlossen. 1953 erweiterte sich Xylon international unter dem Präsidium von Zbinden und dem Belgier Frans Masereel. Es dauerte – wie bei den Malern, Bildhauern und Architekten – lange, bis die erste Holzschneiderin aufgenommen wurde.

Harte Arbeit

Die neue Galerie hatte von Beginn weg ein klares Profil. «Die Galerie zeigt […] die Vielseitigkeit des zeitgenössischen Holzschnitts und der Hochdrucktechniken aller künstlerischen Tendenzen. Vertreten werden vorwiegend KünstlerInnen der schweizerischen und internationalen Vereinigung der Holzschneiderinnen und Holzschneider von Xylon. Die Galerie ist Mitglied des Vereins Berner Galerien», steht so bis heute auf Ihrer Webseite.

Was ist Holzschnitt? Iris Gerber Ritter hat in einem schönen, informativen und wertschätzenden Artikel in der BrunneZytig (Nummer 4/2023) Martin Thönens Erklärung so zusammengefasst: «Ein Holzstück wird in ein bis zwei Zentimeter dicke Platten geschnitten. Je nach Holzart, Schnitt und Absicht des Holzschneiders oder der Holzschneiderin lässt sich die Maserung des Holzes sichtbar in die Bildgestaltung einbeziehen. Für die Bildgestaltung wird ins Holz geschnitten mit Messern, oder gestochen, gegraben, gekerbt mit Stichel, Rund-, Flach- und Hohleisen, sogar mit Motorsägen oder Ähnlichem kann eingewirkt werden. Was von der Platte weggearbeitet wird, kommt nichts aufs Bild, was erhaben bleibt, kann im Druckprozess eingefärbt und so vom Druckstock auf das Papier gedruckt werden. Für mehrfarbige Drucke muss für jede zusätzliche Farbe ein separater Druckstock angefertigt werden. Jeder weitere muss den vorherigen Druck berücksichtigen, ob die neue Farbe sich auf die erste legen oder eine bisher leere Fläche färben soll.»

Emil Zbinden; aus: Gustav Schwab, Die schönsten Sagen des klassischen Altertums, Büchergilde Gutenberg, 1967. (Bild: zvg)

Holzschneiden ist Handwerk, ist harte Arbeit. Es bedarf zahlreicher Schritte, bis ein Werk vollendet ist. Ausdruckswille und handwerkliches Können lassen sich nicht voneinander trennen. Auch selber drucken wollen die Holzschneider in der Regel.

Bedenkt man die gegebenen Bedingungen ist es eindrücklich, welche Spannweite und Vielfalt Holzschnitte haben, von welche filigraner Zartheit – etwa Emil Zbindens Seepferdchen – bis hin zu fast plakativer Deutlichkeit und Lautheit.

Politische Verantwortung der Kunst

Die Geschichte der Galerie Art+Vision ist eng verbunden mit dem Werden und Wachsen des Holzschnitts in der Schweiz sowie der Entwicklung der Vereinigung Xylon. Die Konzentration auf diese Kunstform ist einzigartig in der Schweiz. Von Beginn weg wurde zu jeder Ausstellung ein Plakat mit einer Originalgrafik der Künstlerin oder des Künstlers gedruckt, natürlich auf Thönens Druckpresse. Es gab einen kleinformatigen Katalog mit zwei unveröffentlichten Originalgrafiken, selbst gesetzt. Der Druck erfolgte auf der eigenen Handpresse. Jede Ausstellung weist dadurch über die Künstlerin oder den Künstler hinaus und ist zugleich ein Beleg für die Lebendigkeit des Holzschneidens als Kunstform. Die Sammlung der Plakate und Kataloge der Ausstellungen an der Junkerngasse 34 bildet eine Bild- und Textbibliothek dazu.

Die Kunstform entwickelt sich nicht nur formal und ästhetisch. Sie greift auch aktuelle gesellschaftliche und politische Themen auf: Krieg, Klimawandel oder Naturbedrohungen. Obschon: Solche Themen waren im Holzschnitt immer da. Emil Zbindens Gotthelf-Illustrationen oder Zbindens und Jordis Darstellungen der Kraftwerkbaustellen in den Alpen und auch Frans Masereels Darstellungen von Armut und Elend zeugen von der politischen Verantwortung der Künstler*innen. Bis heute.

Alles selbst gemacht

Eines betont Galeristin Edith Thönen: «Nahezu alles, was ich für die Galerie mache, ist Handarbeit». Das Plakat einer Ausstellung, der Katalog, das Setzen des Textes, der Druck der Grafiken, alles entstehe im Haus. Martin und Edith Thönen arbeiten sich gegenseitig in die Hände. Sie verbringen den Tag zusammen und sehen sich auch am Mittag, nicht selten in der «Spysi».

Nahezu alles, was ich für die Galerie mache, ist Handarbeit

Warum die Bezeichnung «Art+Vision»? Eine tiefere Bedeutung gebe es nicht. Am Anfang sei die Idee gewesen, neben einer Galerie in Bern später auch eine in Basel und vielleicht anderswo zu eröffnen. «Das habe sich nicht ergeben», so Edith Thönen, «doch dass Kunst mit einem Blick voraus gemacht wird, stimmt noch immer.»

Die aktuelle Jubiläumsausstellung präsentiert Plakate aus der Gründungszeit. (Bild: zvg)

Wie geht es mit der Galerie weiter? Am Galerien-Wochenende, zum 50-Jahr-Jubiläum zeigt Art+Vision 150 Plakate von Ausstellungen aus dieser Zeit und greift zurück auf die eigenen Ursprünge. Mehr ist nicht fix bestimmt. «Die Bilder sind beweglich geworden», sagen Edith und Martin Thönen. Solange es geht, wird es Ausstellungen geben, wohl nicht ganz regelmässig. Für Herbst 2024 vorgesehen ist eine grosse Schau der Xylon-Holzschneider*innen.

Das Ende einer Ära

Als Holzschneider will Martin Thönen weiterarbeiten. 1986 gründete er das Druckatelier mit Verlag in Schmitten. Wiederum hatte der Raumbedarf den Takt vorgegeben. Lange war er Lehrer an der Schule für Gestaltung, an der Hochschule der Künste Bern, an der Migros-Klubschule, aber auch an der Thuner Malschule. Für ihn gehören das eigene künstlerische Schaffen, das Lehren, Vermitteln und – in Verbindung mit Xylon – die Förderung der Kunstform des Holzschneidens zusammen.

In seiner Zeit vom Schriftsetzer zum Künstler und Mit-Galeristen hat Thönen die Entwicklung der Grafik und des Drucks in der Schweiz miterlebt. Zum 500. Geburtsjahr Gutenbergs, des Erfinders des Buchdrucks, wurde in Bern das Gutenberg Museum gegründet. Hundert Jahre befand es sich im Kornhaus, in der Nachbarschaft der Malschule von Max von Mühlenen oder des Künstler-Ateliers von Sam Francis. Grafik und Kunst waren Nachbarinnen.

Viele Druckereien sind verschwunden, weil sie mit der ausländischen Konkurrenz preislich nicht mithalten konnten.

Im Jahr 2000 zog das Museum als Schweizerisches Museum der grafischen Industrie und der Kommunikation nach Freiburg. Im Herbst 2022 wurde es nach Kündigung durch die Stadt Freiburg geschlossen. Vor kurzem nahm es den Betrieb in Derendingen wieder auf im neuen Museum ENTER, das der Kommunikation mit digitalen Mitteln gewidmet ist.

Während das der Drucktechnik und -kunst gewidmete Museum bei allem Wandel noch besteht, sind sehr viele Druckereien verschwunden, weil sie mit der ausländischen Konkurrenz preislich nicht mithalten konnten; selbst die Gewerkschaften liessen im Ausland drucken, um zu sparen. Zeitungen werden nicht mehr von Maschinensetzern in Blei gesetzt, die einstigen Intellektuellen des grafischen Gewerbes gibt es in der Schweiz kaum noch. Umso schöner, hat die alte Kunst des Holzschneidens hier noch eine Heimat: An der Junkerngasse 34.