«Eine Frau, die mit vielen Männern Sex hat, wird oft abgewertet»

von David Fürst 10. Juni 2024

Sexarbeit XENIA feiert dieses Jahr ihr 40-jähriges Bestehen. Journal B blickt zurück mit Christa Ammann, Leiterin der Fachstelle für Sexarbeit, und möchte wissen, wie XENIA Sexarbeiter*innen unterstützt, und wie sich Menschen solidarisieren können.

Am Langmauerweg 1 in einem Sandsteinhaus befindet sich die Fachstelle für Sexarbeit XENIA. Dort begrüsst mich Christa Ammann und wir setzen uns an einen grossen Tisch, mit Aussicht auf die Aare. Ich stelle das Aufnähmegerät ein und beginne das Interview.

Journal B: Wenn ich von Sexarbeit spreche, stutzen viele Menschen. Die Verbindung von Sex und Arbeit ist nicht für alle klar. Warum wird Sexarbeit nicht einfach als Arbeit wie andere Arbeiten angesehen?

Christa Ammann: Es gibt viele Gründe, warum Sexarbeit nicht als normale Arbeit angesehen wird. Der Fokus liegt oft auf dem Sex und nicht auf der Arbeit an sich, da Sex ein gesellschaftliches Tabu ist. Sexarbeit wird häufig mit persönlichen Rollen und Stereotypen verknüpft, die tief in unserer Kultur verankert sind. Die Gesellschaft ist oft überfordert von der Vorstellung, dass eine Person Sex nutzt, um sich finanziell zu emanzipieren. Sex soll etwas Privates und eine intime Sache sein, mit dem mensch nicht Geld verdient – so eine Haltung, die fest verwurzelt ist. Dabei wäre es wichtig, dass wir als Gesellschaft über die Arbeits- und Rahmenbedingungen in der Sexarbeit sprechen und uns nicht durch die Tätigkeit «Sex» ablenken lassen.

Die aufsuchende Arbeit von XENIA umfasst Besuche in Etablissements, um Präventionsmaterialien wie Kondome und Flyer zu verteilen (Foto: David Fürst).

 
Was waren die grössten Herausforderungen und Meilensteine in den 40 Jahren seit der Gründung von XENIA?

XENIA wurde aus einem Postulat im Berner Stadtrat gegründet, der eine Beratungsstelle für den Ausstieg aus der Sexarbeit forderte. Seit den 1980er Jahren hat XENIA viele Veränderungen durchlaufen, von der Sichtbarkeit der Strassen-Sexarbeit bis hin zur Integration von Gesundheitsangeboten während der AIDS-Krise. Ein grosser Meilenstein war der Leistungsauftrag mit dem Kanton Bern im Jahr 2010, der jedoch zuerst keine zusätzlichen Stellenprozente brachte. Heute haben wir 330 Stellenprozente für den ganzen Kanton, was logistisch eine grosse Herausforderung ist, da der Bedarf das Angebot übersteigt. Das Prostitutions-Gewerbegesetz von 2013 kritisierten wir als Fachstelle stark, da es zu mehr Abhängigkeit und dem Schliessen vieler kleiner Etablissements führte. Dank einer unabhängigen Evaluation durch die ZHAW und der Empfehlung der Kommission Prostitutionsgewerbegesetz (KOPG) wurde die Verordnung per August 2023 angepasst, sodass nun zwei Personen ohne Betriebsbewilligung zusammenarbeiten dürfen. Weniger bürokratische Hürden für Kleinstsalons haben wir bereits im Gesetzgebungsprozess eingefordert, diese Anpassung ist eine Verbesserung für Sexarbeiter*innen.

XENIA hat immer auch auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen reagiert, welche die Arbeits-Migrationswege von Sexarbeiter*innen beeinflussten. 1994 stellte XENIA die erste Thai-Beraterin ein. Als 2008 die Wirtschaftskrise in Spanien war, kamen mehr spanische Sexarbeiterinnen nach Bern, um zu arbeiten. Die Anwendung oder Nicht-Anwendung der Ventilklausel für verschiedene EU-Staaten in den Übergangsbestimmungen vom Freizügigkeitsabkommen hatte unmittelbaren Einfluss, von wo Menschen in die Schweiz migrierten. Heute bietet XENIA Beratungen in zehn Sprachen an.

«Eine Frau, die mit vielen Männern Sex hat und ihre Lust selbstbewusst kommuniziert, wird oft abgewertet.» (Foto: David Fürst)


Warum gibt es in der Politik so wenig Unterstützung für Sexarbeit?

Im Parlament fehlt oft die Reflexion über die Arbeit von Sexarbeiter*innen. Das Thema ist umstritten und viele Politiker*innen haben Angst, sich zu exponieren. Es ist höchst anspruchsvoll, eine Debatte über gute Rahmen- und Arbeitsbedingungen für Sexarbeiter*innen zu führen, da das Risiko besteht, dass der Vorwurf kommen könnte, man vernachlässige die Themen Ausbeutung und Menschenhandel. Zudem sind viele Sexarbeiter*innen nicht wahlberechtigt oder aufgrund vom Stigma für Politiker*innen nicht sichtbar. Was auch heissen kann, dass sich Politiker*innen weniger für ihre Belange einsetzen, da es sich auf dem Wahlzettel nicht auszahlt. Es braucht Mut und Überzeugung, sich für die Rechte und den Schutz von Sexarbeiter*innen und auch anderen prekären Arbeitsfeldern stark zu machen.

Welche Anliegen bringen Sexarbeiter*innen am häufigsten zu Ihnen?

Sexarbeiter*innen kommen mit verschiedenen Anliegen zu uns, von Gesundheitsprävention bis hin zu komplexen Beratungen zu rechtlichen und sozialen Fragen. Unsere aufsuchende Arbeit umfasst Besuche in Etablissements, um Präventionsmaterialien wie Kondome und Flyer zu verteilen und Kurzberatungen anzubieten. Wir bieten auch Beratungen auf Termin oder ohne Termin an. Hier haben wir Zeit, komplexere Fragen zu klären oder auch mal eine Auslegeordnung zu machen und Dokumente zu drucken. Ein weiterer wichtiger Bereich ist die Beratung von Betreiber*innen und Fachpersonen. Dies immer mit dem Ziel, bessere Arbeitsbedingungen zu schaffen und die rechtliche Sicherheit der Sexarbeiter*innen zu verbessern.

Solidarität mit Sexarbeiter*innen ist ein kontinuierlicher und intersektionaler Prozess (Foto: David Fürst).

Vergangene Woche habe ich für Journal B mit der Sexarbeiterin C gesprochen und sie gefragt, warum Frauen keinen Sex kaufen. Was ist deine Meinung? 

Dies hat viel mit Sozialisierung zu tun. Frauen lernen, dass es nicht legitim ist, ausserhalb einer Beziehung Sex zu haben, während Cis-Männer dieses Stigma nicht tragen. Diese gesellschaftlichen Normen beeinflussen die Regulierung der eigenen Lust und die Legitimität, eine sexuelle Dienstleistung zu kaufen. Frauen nehmen sich diesen Raum oft nicht, auch aus Angst vor gesellschaftlicher Stigmatisierung. Eine Frau, die mit vielen Männern Sex hat und ihre Lust selbstbewusst kommuniziert, wird oft abgewertet. Ein Mann hingegen der das gleiche tut, muss viel weniger mit negativen Konsequenzen rechnen.

Was kann man tun, um solidarisch mit Sexarbeiter*innen zu sein?

Solidarität mit Sexarbeiter*innen ist ein kontinuierlicher und intersektionaler Prozess. Es erfordert ein ständiges Reflektieren über die eigenen Privilegien und die Auseinandersetzung mit stereotypischen Mustern, die wir alle über Sexarbeitende haben. Der Hauptwunsch der Sexarbeiter*innen ist Respekt und Anerkennung für ihre Arbeit, unabhängig von den vielfältigen Gründen, warum sie diesen Beruf ausüben. Es ist wichtig, ihnen als Arbeiter*innen mit Respekt und Akzeptanz zu begegnen und die verschiedenen Rollen, die sie im Leben einnehmen, zu erkennen. Menschen, die im Sexgewerbe arbeiten, sind oft auch Partner*in, Mutter, beste Freundin, Sportlerin und so weiter. Die Sexarbeit umfasst nicht die ganze Identität. Wie bei anderen Menschen, die arbeiten, auch. Sexarbeiter*innen wünschen sich, dass man ihnen zuhört und respektvolle Fragen stellt. Zudem ist es wichtig, den Sprachgebrauch zu sensibilisieren und abwertende Begriffe zu vermeiden. Die Liste an Schimpfwörter, die Sexarbeiter*innen und ihre Kinder oder Familien abwerten, ist riesig. Eine respektvolle Sprache trägt zur Entstigmatisierung bei.

Im Parlament fehlt oft die Reflexion über die Arbeit von Sexarbeiter*innen, sagt Christa Ammann (Foto: David Fürst).

Wie sieht die Zukunft von XENIA aus?

Unsere Vision ist die Entkriminalisierung und Entstigmatisierung der Sexarbeit. Wenn sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen so verbessern, dass Sexarbeiter*innen in allen Lebensbereichen ohne Angst vor Stigma und Diskriminierung ihre Arbeit in einem Haupt- oder Nebensatz erwähnen können, wird es XENIA nicht mehr brauchen. Derzeit beobachten wir jedoch eher Rückschritte im Bereich der Menschenrechte, sie werden häufiger in Frage gestellt. Es fehlt in vielen Bereichen an Rechtssicherheit, an legalen Migrations- und Arbeitsmöglichkeiten inner- und ausserhalb der Sexarbeit. Der Schutz vor Gewalt, Ausbeutung und Menschenhandel muss verbessert werden und diskriminierungsfreie Zugänge zu Gesundheit, Wohnraum und Gerechtigkeit geschaffen werden. Sexarbeitende müssen in den Entscheidungen, die sie betreffen, mehr Mitsprache erhalten und wir müssen den Rahmen für menschenwürdige und selbstbestimmte Arbeitsbedingungen schaffen.