«Eine Angelegenheit des Terminkalenders»

von Christoph Reichenau 9. September 2019

Die Wahlen stehen vor der Tür und damit auch die Gelegenheit, ein politisches Zeichen zu setzen gegen erstarkenden Autoritarismus und Nationalismus. Es ist an der Zeit, bei der Neubesetzung von National- und Ständerat diese Möglichkeit wahrzunehmen.

Orban, Trump, Johnson: Lügner, Scharfmacher, Rassisten, die gegen unten treten, Zerstörer des Zusammenhalts in der Gesellschaft, des Gemeinsinns, der Solidarität, der lösungsorientierten Zusammenarbeit auch unter Staaten. In Deutschland marschiert die AfD voran. Genau wie bei uns seit vielen Jahren die SVP: Blocher, Köppel, Amstutz, Salzmann. Kaum jemand hat vorausgesehen, dass sich – allen Unterschieden zum Trotz – die Verhältnisse derart rasch und massiv ändern.

Immer wieder fragt man sich: Wann kippt der überhandnehmende Autoritarismus in einen neuen Faschismus? Wann werden aus den Wörtern der Gewalt Gewalttaten? Wann wird das, was derzeit noch die Ausnahme ist, zur Regel? Wann ist es Zeit, dagegen offen anzukämpfen? Zu kämpfen, ohne sich lächerlich zu machen, weil man überreagiert? Zu kämpfen, ohne der Naivität oder dem Zynismus zu verfallen, die heutigen Gefahren mit den damaligen fürchterlichen Schrecken gleichzusetzen?

Auf dem Platz vor der Humboldt-Universität zu Berlin ist ein Mahnmal eingelassen: Zwei Metalltafeln erinnern an die Bücherverbrennung dort am 10. Mai 1933. Durch eine Glasscheibe sieht man unter der Erde in Bibliotheksregale ohne ein einziges Buch.

In einer Rede «Über das Verbrennen von Büchern», die er 1958 hielt, sagte der Schriftsteller Erich Kästner dies:

«Die Ereignisse von 1938 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr an! Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat. Das ist die Lehre, das ist das Fazit dessen, was uns 1933 widerfuhr. Das ist der Schluss, den wir aus unseren Erfahrungen ziehen müssen, und es ist der Schluss meiner Rede. Drohende Diktaturen lassen sich nur bekämpfen, ehe sie die Macht übernommen haben. Es ist eine Angelegenheit des Terminkalenders. Nicht des Heroismus.»

Passen wir auf. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Das haben wir von UdSSR-Generalsekretär Gorbatschow 1989 gelernt, in einer anderen Umbruchsituation. Die Rede, man müsse für die Menschen Verständnis haben und Lösungen suchen, die sich im eigenen Land nicht mehr zu Hause fühlten, denen Perspektiven abhandengekommen seien, verdient Gehör. Aber nur, wenn auch diese Menschen für andere Verständnis aufbringen. Dann können wir gemeinsam den Brandstiftern entgegentreten.

Jetzt. Gehen wir zur Wahl! Nutzen wir das Privileg der Demokratie. Wer nicht wählt, weil es mühsam ist, weil «die in Bern ohnehin machen, was sie wollen», weil man sich über Politik erhaben fühlt, weil es nichts ändert, nimmt sich selbst und uns alle nicht ernst. Dies führt zu beschämenden Wahlbeteiligungen von 40-50 Prozent – und dies hier bei uns, wo wir den mit uns lebenden Ausländerinnen und Ausländern (20-25% der Bevölkerung) das Wahl- und Stimmrecht verwehren wie bis 1971 den Frauen. Andere nicht wählen lassen und selbst nicht wählen – das ist für mich die perverseste Art, ein Privileg zu missbrauchen.

«One man, one vote», das ur-demokratische Motto, setzte auf die Beteiligung aller in ihrer Unterschiedlichkeit und Vielfalt. Bleibt die Hälfte zu Hause und dürfen 20-25 Prozent nicht mitmachen, wird die Wahl eine Farce. Sie muss aber eine Angelegenheit des Terminkalenders sein. Oder der Frankatur eines Couverts.