Ein Zukunftsrat als dritte Parlamentskammer?

von Christoph Reichenau 20. September 2023

Klima Im Buch «Mit einem Zukunftsrat gegen die Klimakrise» begründen die Herausgeber*innen, warum die Schweiz eine dritte Parlamentskammer braucht. Für sie ist das keine Vision, es ist ein Projekt. Und die Schweiz brauche ein Projekt.

Fast schlägt man das Buch wieder zu, kaum hat man es geöffnet. Doch dann erinnert man sich: 1954 hat Max Frisch mit ein paar Gleichgesinnten «achtung: Die Schweiz» veröffentlicht, ein dünnes Bändchen, der Untertitel: Ein Gespräch über unsere Lage und ein Vorschlag zur Tat. Die Tat: Eine zeitgemässe Stadt zu errichten, anstatt 1964 in Lausanne die Landesausstellung Expo auf- und wieder abzubauen. Auf den noch heute bedenkenswerten Aufruf ist nichts gefolgt.

1964 dann, im Expo-Jahr, hat Max Imboden in seinem Büchlein «Helvetisches Malaise» befunden: «Noch bleibt die Haltung der Bürger weit von der offenen Ablehnung entfernt; aber das selbstverständliche Einvernehmen mit der politischen Umwelt und ihrer Form, der Demokratie, ist zerbrochen.» Imboden war Rechtsprofessor, Nationalrat und erster Präsident des Schweizerischen Wissenschaftsrats. Ein Mahner aus dem universitären Establishment, wie Max Frisch ein Rufer aus der anerkannten Architektur und der Literatur war.

Der Zukunftsrat hat das Recht, Volk und Ständen Änderungen der Bundesverfassung  zur Abstimmung zu unterbreiten.

Beide Manifeste sind Utopien geblieben. 1999 ist nach fast einem Vierteljahrhundert Vorarbeit die Bundesverfassung totalrevidiert worden, wobei ein Gutteil der Revision in der Nachführung der seit Anbeginn vorgenommenen Änderungen bestand. Nun soll eine markante Neuerung gewagt werden: Die Schaffung einer dritten Kammer des Bundesparlaments mit dem Namen Zukunftsrat. Vier Personen präsentieren die Idee, an der bereits zahlreiche Fachpersonen und «einfache» Bürger*innen gearbeitet haben: Die ETH-Professorin Sonia I. Seneviratne, die Mitbegründerin der Operation Libero Laura Zimmermann, der Zürcher alt Regierungsrat Markus Notter sowie Andreas Spillmann, ehedem Direktor des schweizerischen Nationalmuseums.

Wahl durch das Los

Der Zukunftsrat hat, so ist es vorgesehen, 100 Mitglieder. Sie werden unter den interessierten Personen für eine Amtsdauer von 6 Jahren ohne Möglichkeit der Wiederwahl ausgelost. Voraussetzung ist das Stimm- und Wahlrecht. Alle zwei Jahre wird ein Drittel der Mitglieder ersetzt, um Kontinuität zu gewährleisten. Der Zukunftsrat «wacht über die Nachhaltigkeit der Geschäfte der Bundesversammlung und berücksichtigt dabei insbesondere die Interessen künftiger Generationen» und wird durch ein Expert*innengremium unterstützt. Die erste Hälfte seiner Amtszeit befasst sich der Zukunftsrat in erster Linie mit der Umsetzung einer nachhaltigen Klimapolitik.

Was soll der Zukunftsrat tun dürfen? Er hat einerseits das Recht, Volk und Ständen Änderungen der Bundesverfassung zu allen Themen zur Abstimmung zu unterbreiten. Dies soll er direkt tun können, ohne zuvor 100‘000 Unterschriften zu sammeln und den Weg durch die Bundesversammlung zu gehen. Andererseits kann der Zukunftsrat das Veto einlegen gegen Beschlüsse der Bundesversammlung, die dem Referendum unterliegen. Die Mehrheit des National- und Ständerats kann allerdings das Veto überstimmen.

Stachel im Fleisch

Was kann der Zukunftsrat bringen? Er durchbricht die Parteien-Abhängigkeit der Bundesversammlung, indem seine Mitglieder durch das Los bestimmt werden. Dabei sind die Stimmberechtigten repräsentativ zu vertreten.

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Er kann sich mit Reformvorschlägen direkt und zeitnah an die Bevölkerung wenden. Er kann die Bundesversammlung durch sein Veto zwingen, über Beschlüsse nochmals nachzudenken bzw. durch die ständige Vetodrohung nicht extrem auszugestalten.

So würde der Zukunftsrat der Stachel im Fleisch des Parlaments, wie wir es kennen, ein institutionalisiertes Korrektiv – und eine Ergänzung mit direkter Verbindung zur Bevölkerung, besonders zur jungen Bevölkerung. Das ist für die Initiant*innen nötig, um die Schwachstellen des heutigen Parlamentsbetriebs zu korrigieren. Denn würde dieser insbesondere in der Klimapolitik rasch, entschieden und radikal genug handeln, würde er vermehrt an die Kinder, Enkel und Grossenkel denken, wäre ein Zukunftsrat entbehrlich.

Die Analyse stimmt

Stimmt die kritische Analyse der Initiant*innen? Ja, für mich trifft sie zu. National- und Ständerat haben es in der ablaufenden Legislaturperiode nicht geschafft, unser Verhältnis zur EU zu klären, ein gemeinsames Verständnis der Neutralität zu finden, die Sicherheit im Alter zu gewährleisten, angemessene Arbeitsbedingungen für alle zu sichern, das Gesundheitswesen und die Pflege für alle bezahlbar zu gestalten. Sie geben mir nicht den Eindruck, gemeinsam Lösungen zu suchen, sondern eher, in erster Linie Sonderinteressen vertreten zu wollen. Also ja, vieles muss sich ändern.

Ein Viertel bliebe aussen vor. Inhaltlich ist diese Einschränkung unverständlich und nicht annehmbar.

Ein grosser Schwachpunkt der Idee Zukunftsrat liegt darin, dass eines der grössten Probleme der Demokratie in der Schweiz nicht angefasst wird: Der Ausschluss eines Viertels der Bevölkerung vom Stimm- und Wahlrecht. Der Zukunftsrat würde aus den drei Vierteln der Personen ausgelost, die stimmberechtigt sind. Ein Viertel bliebe aussen vor. Inhaltlich ist diese Einschränkung unverständlich und nicht annehmbar. Taktisch kann man sie verstehen; gutschweizerisch soll das Fuder nicht überladen werden.

Schwächen

Diese Taktik gilt wohl auch für das Nicht-Antasten des Ständemehrs. Danach hat in Abstimmungen Appenzell-Innerrhoden das gleiche Gewicht wie der halbe Kanton Bern: 500‘000 gegen 17‘000 Personen. Was dies bewirken kann, haben wir 2020 bei der Konzernverantwortungsinitiative erlebt: Eine knappe Mehrheit des Volkes stimmte zu, eine Mehrheit der Kantone (14,5 Stände) dagegen, beide Mehrheiten wurden nicht erreicht. An dieser Mechanik wird auch das Recht des Zukunftsrats nichts ändern, Verfassungsänderungen dem Volk und den Ständen direkt zu unterbreiten.

Dafür bräuchte es die Initiative für eine zeitgemässe Bundesverfassung, deren Lancierung derzeit vorbereitet wird. Auch wenn alles zügig geht, dürfte eine neue Verfassung kaum vor 2030 zur Abstimmung gelangen – und dann wären bloss die Grundlagen neu, um handeln zu können.

Ist nicht fast alles schwer vorstellbar, bis jemand den ersten Schritt wagt?

Wer nun glaubt, die Idee Zukunftsrat sei ein links-grüner Furz, irrt doppelt. Auf grossformatigen Fotos und in differenzierten Interviews äussern sich junge und ältere Menschen aus Stadt und Land und dem grossen Dazwischen der Agglomerationen mit Gedanken zur Lage und Zukunft der Schweiz. Kleine Bilder am Schluss des Buchs zeigen ihre Wohnorte; sie liegen überall. Die Idee ist auch kein Schnellschuss, sondern im Gegenteil elaboriert bis in kommentierte Formulierungsvorschläge zur Anpassung der Bundesverfassung.

Was machen wir jetzt?

Das schöne, liebevoll gestaltete Buch ist eine Einladung; auch Schönheit kann einen packen. Was also? Ist Mitmachen beim Diskutieren der präsentierten Idee angesagt? Oder abseits bleiben, da die Idee politisch chancenlos erscheint? Nun, war bis 1971 das Frauenstimmrecht nicht ein frommer Wunsch, abhängig von der Einsicht der Männer? War bis 2021 die Ehe für alle nicht eine Vision? War es bis vor ganz Kurzem nicht eine Utopie, durch einfache Erklärung im Personenstandsregister sein Geschlecht zu ändern?

Leben wir in der besten aller Welten? Ist nicht fast alles schwer vorstellbar, bis jemand den ersten Schritt wagt? Rühmen wir unser politisches System nicht dafür, es aus eigener Kraft verändern zu können?

Von Max Frisch stammt der Satz «Man ist nicht realistisch, indem man keine Idee hat». So wie die Idee jetzt vorgestellt wird, dürfte ein Zukunftsrat nie werden. Doch etwas in dieser Richtung, in dieser Art kann möglich werden, wenn wir die Diskussion aufnehmen: Für das Klima, für die künftigen Generationen. Man ist nicht naiv, wenn man einsteigt. Doch man ist zynisch, wenn man draussen bleibt.

So kommt das Buch daher. (Bild: Scheidegger & Spiess)

Mit einem Zukunftsrat gegen die Klimakrise. Warum die Schweiz eine dritte Parlamentskammer braucht, Hg.: Sonia I. Seneviratne, Laura Zimmermann, Markus Notter, Andreas Spillmann. Verlag Scheidegger & Spiess. Zürich 2023. 222 Seiten.