Einst träumte Italien davon, wie seine europäischen Nachbarn auf dem afrikanischen Kontinent über weite Kolonialgebiete zu herrschen. Besonders auf den nord- und ostafrikanischen Raum hatte man es abgesehen. 126 Jahre ist es her, dass italienische Truppen in Abessinien, heute Äthiopien, einmarschierten. Vom benachbarten Eritrea, damals bereits unter italienischer Herrschaft, überschritten sie am 1. März 1896 die Grenze zum Kaiserreich Abessinien. Sie sollten ihr blaues Wunder erleben: Von der wuchtigen Überzahl der Äthiopier überrascht, starben die meisten italienischen Soldaten im Kampf, wurden verwundet oder gefangen genommen. Die Schlacht von Adua besiegelte vorerst die äthiopische Souveränität. Bis heute feiern die Äthiopier den 2. März als den Tag, an dem sie sich erfolgreich gegen imperialistische Eindringlinge wehrten.
Einer der Krieger auf Seiten Äthiopiens war Ras Makonnen, Vater des berühmten Haile Selassie, des letzten Kaisers Abessiniens. Als Kommandant hatte Ras Makonnen während der Schlacht von Adua eine leitende Rolle inne. Und: An seinem Arm soll er einen schwarz-goldenen Handfesselschutz getragen haben. Dieser Armschutz befindet sich heute im Bernischen Historischen Museum.
Aber wie gelangte der Rüstungsgegenstand aus dem italienisch-äthiopischen Krieg nach Bern? Durch welche Hände ging dieses historische Objekt, bevor es hier in die ethnografische Sammlung aufgenommen wurde?
Detektiv der Geschichte
Es sind Fragen wie diese, die den Provenienzforscher Samuel Bachmann am Bernischen Historischen Museum beschäftigen. Man kann ihn sich durchaus als Detektiv vorstellen, der Objekte des Museums wie Hinweise betrachtet und ihren Spuren in die Vergangenheit folgt.
Die relativ junge Provenienzforschung rekonstruiert die «Biografie» von historischen Gegenständen, von deren Anfängen bis zum aktuellen Standort. Bei Kunstwerken kann sie Aufschluss über deren Authentizität geben. Bei Kulturgütern ist sie unter anderem Mittel zur Aufarbeitung des kolonialen Erbes. «Spuren kolonialer Provenienz» heisst so auch das Projekt, in welchem man die ethnografischen Sammlungen des Bernischen Historischen Museums unter die Lupe nimmt.
Statt wie früher möglichst viel Material zu sammeln, befindet sich das Museum wie so viele in einem Sammlungsstopp. «Wir suchen nach Informationen zu den Objekten, die wir bereits haben», sagt Bachmann. Das tun der Provenienzforscher und sein Team in Archiven in der Schweiz, aber auch im Ausland. So sucht man im Museum nach Hinweisen, die mehr über die gesammelten Objekte verraten – und darüber, ob einige allenfalls in einem Kontext hierher gelangten, der eine Rückgabe an das Herkunftsland oder eine Kontaktaufnahme nahelegen könnte.
So geschehen auch beim Handfesselschutz: Dieser stammt aus einer der ethnografischen Sammlungen, die der erste Konservator des Museums, der Geograf Rudolf Zeller, zwischen 1904 und 1940 aufbaute – in einer Zeit kolonialer Expansion Europas. «Zeller hatte ein riesiges Netzwerk und korrespondierte mit Wissenschaftlern, Händlern, Reisenden und Sammler*innen auf der ganzen Welt, die ihm von ihren Reisen Gegenstände nach Bern brachten», sagt Samuel Bachmann.
Ein Brief gibt Aufschluss
Einer der vielen Briefe aus Zellers Schriftverkehr stammt von einem Schweizer namens Jean-Adolphe Michel, datiert vom 9. Januar 1931, und befand sich im Archiv des Museums. «Ein Glücksfund», sagt Bachmann. Per Zufall sei er auf den Brief des Sammlers gestossen, in dem erwähnt wird, dass der Handfesselschutz, wörtlich, «von Ras Makonnen, de[m] Vater des […] Kaisers in der Schlacht bei Adua» getragen wurde. Der Brief verschwand nach Zellers Amtszeit im Archiv, wo er offenbar vergessen ging.
Wer Jean-Adolphe Michel war, darüber ist nur wenig bekannt. Der Unternehmer weilte länger am kaiserlichen Hof von Menelik II., vermutlich in beratender Position. Wie Michel in den Besitz des Armschutzes gekommen war, sei nicht gänzlich geklärt, aber: «Alles weist darauf hin, dass er ein diplomatisches Geschenk von Kaiser Menelik II. war.»
Ein Diskurs bewegt
Also handelt es sich bei diesem Armschutz wahrscheinlich um ein Präsent, das nicht durch die Hände von Kolonisten nach Bern gelangte: «Längst nicht alle Kulturgüter, die aus einer ehemaligen Kolonie stammen, kamen auf unrechtmässige Weise nach Europa», sagt Bachmann. Und lange nicht alle würden restituiert, fügt er an. Der öffentliche Diskurs fokussiere zwar gerne auf den Aspekt der Rückgabe, doch «die Sache ist viel komplexer». Kolonialismus sei als solcher ein krasses Unrecht, keine Frage. Allerdings sagt Bachmann, dass es immer auf den genauen Zusammenhang ankomme, in welchem ein Objekt den Besitz gewechselt habe: «Ich wünsche mir deshalb eine differenziertere Diskussion.»
Dennoch begrüsst er sie. Schweizer Museen stehen in der Provenienzforschung im Vergleich zu Kulturinstitutionen in Nachbarländern immer noch am Anfang. Jedoch sei auch hierzulande ein wachsendes Bewusstsein zu spüren, sagt Bachmann.
So investiert auch der Bund in die Aufarbeitung. Das Bundesamt für Kultur unterstützt während der laufenden Periode 2021 bis 2022 18 schweizerische Projekte zur Provenienzforschung mit insgesamt 1,6 Millionen Franken. Überwiegend handelt es sich dabei um Untersuchungen zu NS-Raubkunst oder, eben, ethnologischen Kulturgütern. 60 000 Franken gingen an das Bernische Historische Museum. «Die öffentliche Diskussion hat etwas bewegt», ist Bachmann überzeugt.
Im Projekt «Spuren kolonialer Provenienz» rekonstruiere man die unterschiedlichsten Aspekte, welche die Gegenstände über imperialistische Verstrickungen preisgeben: Vom Missionswesen über den Handel bis hin zur staatsmännisch-diplomatischen Seite. Dabei ist der äthiopische Handfesselschutz das persönliche Lieblingsobjekt des Forschers, denn er zeuge vom Widerstand, den die Eindringlinge vorfanden. «Er erinnert daran, dass die kolonialisierte Bevölkerung nicht einfach handlungsunfähig war, sondern sich auch gewehrt hat.»