Ein Wort gegen das Linken-Bashing

von Bettina Hahnloser 23. Dezember 2016

MEIN BEWEGTES 2016. Die Ereignisse dieses Jahr haben auch junge Menschen fassungslos gemacht. Solange sie sich kritisch und selbstkritisch Gedanken machen, bleibt Zuversicht.

Sie habe einen Leserbrief geschrieben, teilte unsere Tochter im November beiläufig mit. «Oh», staunte ich, «das braucht Mut! Worüber denn?» – «Über das Linken-Bashing nach Brexit und der Wahl Trumps.» – «Hast du dich kurz gefasst?» Nein, es habe ihr «einfach geschrieben». Eineinhalb Seiten waren’s dann am Ende. Ich bedauerte: «Dann vergiss es, die werden das nie abdrucken.»

Der Leserbrief beginnt mit Verweis auf Karl Marx und der Bemerkung eines Wirtschaftshistorikers: Marx habe mit seinem allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Akkumulation und der Verelendung des Proletariats richtig analysiert, jedoch nicht mit der Macht der Gewerkschaften gerechnet. Erst die damit errungene Massenkaufkraft habe das System des Kapitalismus am Leben erhalten und gestärkt. Die Gewerkschaften und später die Sozialdemokratie waren damit systemerhaltend. Und sind es immer noch. Bloss haben das die Bürgerlichen nie begriffen. «Heute für alle selbstverständliche Mechanismen resultierten zumeist aus linken Vorstössen: Arbeitslosenversicherung, Frauenstimmrecht und die Einführung der AHV sind nur einige Beispiele (und ausnahmslos alle wurden zu Beginn hart bekämpft). Heute kämpft die Linke weiter, beispielsweise für einen Mindestlohn.» Was passiere, wenn sich die Einkommensschere weiter öffne, sehe man in den USA. 

Was in diesem Jahr geschah, machte die Töchter fassungslos. Sind Freiheit, Demokratie, Toleranz und der Blick aufs Gemeinwohl nun doch keine Werte, die letztlich unwiderstehlich sind? Und der Fortschritt nun doch nicht zwangsläufig? Sind die Wahl Trumps, der Austritt Grossbritanniens aus dem grössten Friedensprojekt aller Zeiten, die Popularität der Populisten, das Erstarken des Islamismus, das Säbelrasseln Putins vielleicht doch nicht bloss Rückzugsgefechte jener, die ihre alte Weltordnung bedroht sehen? Ist das urmenschliche Bedürfnis, einer Gemeinschaft anzugehören, und die Sehnsucht nach Bindung und autoritären Vaterfiguren stärker als die Attraktivität von Grundrechten – ob nun diese Gemeinschaft die Komplexität auf unlautere Weise reduziert, zu Gewalt aufruft, Minderheiten unterdrückt, Lügen verbreitet oder sich auf die «glorreiche» Vergangenheit beruft, die es so nie gab?

Unsere ganze Familie hat in diesem Sommer die 3000-seitige «Jahrhundertsaga» des englischen Autors Ken Follett verschlungen. Die in Familiengeschichten erzählte Chronik des 20. Jahrhunderts erinnerte uns einmal mehr daran: Auch eine zivilisierte, moderne Gesellschaft lässt sich brutal geschwind ins Unglück stürzen. Bloss scheint das ein Teil der Wählerschaft vergessen zu haben.

So hat sich in diesem zu Ende gehenden Jahr die dem Nachwuchs eingeimpfte Zuversicht, dass alles besser wird, arg gedämpft. Leider werde nirgends geschrieben, was die Linke hätte anders machen sollen, schreibt Lara am Ende ihres Leserbriefs. «Gerne lassen wir uns aber belehren.»

Und ach ja: Der Beitrag wurde vom «Bund» dann doch gedruckt – stark gekürzt, aber immerhin. Solange unsere Kinder solche Leserbriefe schreiben, sich Gedanken machen und nach Antworten suchen, sich des eigenen Wohlbefindens bewusst sind und sich eine «Geiss oder ein Schwein von Heks» zu Weihnachten wünschen, sind wir trotz allem zuversichtlich gestimmt…