Die letzte «freie» Nacht auf dem Vorplatz vor den von Regierungsstatthalter Christoph Lerch angekündigten neuen Regelungen feierte man laut, lange und mit Feuerwerkskörpern. Die erste Nacht, in denen die Verbote in Kraft traten, hatte noch mehr Knalleffekt: Am 12. Mai um 0.30 Uhr nämlich bewegte sich ein tanzender Tross von 3000 Leuten Richtung Innenstadt. «Nehmt ihr uns den Vorplatz, nehmen wir uns die Stadt», hiess es auf Bannern und Flyern. Die spontane Demo verlief friedlich.
«Wir haben nicht gross mobilisiert, wir sagten nur: Kommt, es wird etwas passieren», erzählt der «Reitschüler» Tom Locher. Der 12. Mai sei für «Tanz dich frei» entscheidend gewesen. «Für die Nachtdemo haben verschiedene Gruppierungen zusammengearbeitet und man hat realisiert: Wir können etwas bewegen.» Das Gleiche galt für 3000 Partygänger.
«Kommt, es wird etwas passieren»
Tom Locher, langjähriger Reitschule-Aktivist
Wer es also nicht durch Mund-zu-Mund-Propaganda oder Facebook erfuhr, tat es durch die Medien: Die Nachtdemo war die Party des Jahres – und am 2. Juni würde wieder getanzt werden. Wer dabei war, wollte noch einmal. Und wer nicht dabei war, wollte den zweiten Streich ganz bestimmt nicht verpassen. Mitte Mai solidarisierte sich die Reitschule offiziell mit «Tanz dich frei 2.0» und rief weitere Clubs auf, es ihr gleichzutun. Tags darauf folgten das «Kapitel» und das «Bonsoir».
«Nicht kommerzielle Räume sind auch für normale Clubs wichtig», sagt hierzu «Kapitel»-Betreiber Diego Dahinden. «All die Leute, die zu jung sind, sich den Eintritt nicht leisten können oder wollen, müssen irgendwohin. In Bern gibt es nur den Vorplatz.» Die Reitschule sei in der Stadt so etwas wie eine Jugendarbeiterin – ungewollt.
Überhaupt spielte die widerstandserfahrene Reitschule bei der Mobilisierung eine wichtige Rolle. Seit ihrer offiziellen Eröffnung 1987 hatte das autonome Jugendzentrum zahlreiche Existenzkämpfe auszutragen, allein fünf Abbruchabstimmungen hatte sie zu bewältigen. Dazu kommt das politische Engagement wie etwa der Anti-WTO-Gruppierungen, der Reclaim-the-Streets- und der Sauvage-Bewegung. Das bringt Erfahrung und Netzwerke. «Wenn die Reitschule angegriffen wird, stehen sehr viele Leute bereit, um sich zu engagieren», sagt Locher.
Das «Tanz-dich-frei»-OK hielt sich derweil im Hintergrund und überliess das Sprechen denen, die es wollten. Über Facebook wurde neben dem schon bestehenden Text lediglich kommuniziert, dass die Demo friedlich sein soll. Auch Flurin Jecker rief auf seinem Blog zum friedlichen Protest auf. Warum er das tat, obwohl er mit der Organisation überhaupt nichts zu tun hatte? «Nachdem ich schon die Lerch-Sache kommentiert hatte, fühlte ich mich irgendwie verantwortlich», sagt er. Und nennt damit wohl den Grund, der etliche Bands und Veranstalter dazu bewog, die Organisatoren zu kontaktieren, Wagen zu bauen und mitzumischen. Man fühlte sich verantwortlich. So auch Rapper wie Baze, Greis oder PVP vom Hiphop-Label Chlyklass.
«Wir hörten, dass bei der Demo vor allem elektronische Musik laufen würde. Und wir wollten, dass auch die Rap-Szene vertreten ist», erzählt ihr Manager Baldy Minder. Er wandte sich an eine Freundin, von der er die Nummer einer der Organisatoren bekam, und meldete seinen Wagen an. «Das Organisationskomitee wusste natürlich, wie viele Wagen kommen würden, aber gemacht haben wir sie selbst», sagt er.
«Im Umkreis von ein paar Kilometern war kein Generator oder Traktor mehr zu haben», erzählt Terry Loosli. Etliche Leute hätten ihn auf der Suche nach fehlenden Teilen angerufen. «Es war eigentlich nicht anders als 1987. Es gab keine durchstrukturierte Organisation. Das Ganze beruhte auf einem engen Netzwerk und war sozusagen selbstorganisierend», sagt der Szenekenner. «Ich wüsste auch nicht, dass Patent Ochsner jemals angefragt worden ist.»
So standen am Samstagnachmittag des 2. Juni bei schönem Wetter zehn mit Soundsystemen bepackte Wagen auf dem Vorplatz. Bei einem Briefing am Nachmittag erfuhren sie ihre Route, erhielten Funkgeräte und eine Menge Dosenbier. Dies konnte in der Reitschule bezogen und zum festen Preis von 3 Franken verkauft werden. Der Erlös würde in einen Pool fliessen, sodass möglichst alle Kosten gedeckt würden. Dann konnte sie losgehen, die Riesenparty. Und jeder konnte sich frei tanzen von was er sich eben gerade eingeengt fühlte.