Ein Tanz um die Nacht: Teil 2, Neuer Pakt im Basislager

von Martina Kammermann 12. Oktober 2012

Was waren die Auslöser, wo waren die Anfänge? In einer dreiteiligen Geschichte blickt Journal B auf die Entstehung von «Tanz dich frei 2.0» zurück.

Die Kampfansage «Figg di Frou Müller» nach der Schliessung des «SousSoul» war ein Ausgangspunkt zu «Tanz dich frei». Diese Protestaktion weitete sich auf Facebook rasch aus. Den Anstoss dazu gab drei Tage später die Nachricht, dass das Partylabel «Ammonit» sein traditionelles Oster-Elektro-Weekend im Kornhausforum nicht durchführen könne – wegen kurzfristig geänderter Behördenbeschlüsse. «Das war für mich der Wendepunkt, der ‘Tanz dich frei’ möglich machte», sagt Loosli. War die Nachtlebenproblematik bislang ein Thema der Kulturszene gewesen, schwappte sie nun auf die kommerzielle Clubszene über – und somit auf die breite Masse. Der Diskurs gewann öffentlich an Fahrt. Clubbesitzer, Veranstalter und Partygäste empörten sich gleichermassen, die Medien berichteten, und man fragte sich: Gibt es einen neuen Kulturstreik, so wie damals 1987?

Auch «Pro Nachtleben Bern», eine Gruppe von jungen Politikern quer durch alle Lager – ausser der SVP – sah jetzt Handlungsbedarf. Sie warnte vor kopflosen Einzelaktionen und berief am 20. Januar eine offene Sitzung für alle Interessierten ein. «Es erschienen Veranstalter, Clubverantwortliche, Privatpersonen, alles mögliche», sagt Tom Berger, Präsident von «Pro Nachtleben Bern». Das Ziel der Sitzung war, gemeinsam eine Demo nach dem Vorbild des Berner Bebens 1987 auf die Beine zu stellen. Und so ging man verschiedene Ideen durch. Wäre es möglich, dass alle Clubs um 0.30 Uhr schliessen und die Gäste (inklusive DJ’s) auf die Strasse schicken? Könnte man über einen Radioaufruf Leute für eine überraschende Demo zusammentrommeln? Sollte man die Gemeinderäte vor ihrer Mittwochssitzung abfangen und auf einen Drink einladen? Zentral war auch die Frage, wie man mit dem Thema wirklich viele Leute erreichen kann. An Ideen fehlte es der bunt zusammengewürfelten Versammlung nicht. Doch nach einem zweiten Treffen kristallisierte sich immer klarer heraus, wie gross das Sicherheitsrisiko in jedem Fall sein würde – nämlich unüberschaubar gross. Anonymität war eine Voraussetzung. So schloss Sitzungsleiter Tom Berger: «Wir lassen es bleiben.» Und er tat das auch. Doch die Ideen standen im Raum, ebenso die motivierten Leute. «Ich hoffte, oder na ja, ich wusste eigentlich, dass die Sache trotzdem kommt», schmunzelt Berger.

Die Veranstaltung «Tanz dich frei 2.0» war zu dieser Zeit schon längst auf Facebook aufgeschaltet. Tom Berger ist überzeugt, dass einige Personen aus der vorangegangenen Sitzung zur Tanz-dich-frei-Organisation dazustiessen und neue Inhalte einbrachten. Waren die bestehende Plattform, der Slogan sowie der Termin als Voraussetzungen für ihr Anliegen doch ideal. Aber war die ursprüngliche Organisation einfach so bereit, ihre antikapitalistische Botschaft um das aktuelle Thema Nachtleben zu erweitern?

«Die Organisatoren wurden von der neuen Dimension ihrer Demo ja selbst auch überrascht»

Tom Locher, langjähriger Reitschule-Aktivist

«Klar gibt es da viele Widersprüche», sagt der langjährige Reitschule-Aktivist Tom Locher. Die Zusammenarbeit mit den Clubs stehe im Kontrast zur Forderung von nicht kommerziellen Räumen. Doch «Tanz dich frei» sei einfach das ideale und zu der Zeit auch einzige mögliche Gefäss für eine Grossdemo gewesen. «Angesichts der aktuellen Ereignisse und der herrschenden Dynamik war das OK bereit, sich ein wenig zurückzunehmen», sagt er. Als sich abzeichnete, wie gross diese Sache werden würde, war man sowieso auf Verstärkung angewiesen. «Die Organisatoren wurden von der neuen Dimension ihrer Demo ja selbst auch überrascht», so Locher.

Die Reihen von «Tanz dich frei» wurden also neu geschlossen oder die Basis zumindest verbreitert. Davon standen nun aber noch keine Leute auf der Strasse. Einen entscheidenden Teil von deren Mobilisierung besorgte die Stadt Bern schliesslich selbst. Schon im Februar kündigte Regierungsstatthalter Christoph Lerch neue Auflagen für den Wochenendbetrieb der Reitschule an. Ende April, gut einen Monat vor der Demo, liess er die Bombe platzen: auf dem Vorplatz der Reitschule, auf dem sich an schönen Wochenenden nächtens jeweils 1000 bis 2000 Leute tummeln, dürfe ab 0.30 Uhr künftig kein Alkohol mehr ausgeschenkt und die Gäste sollten weggewiesen werden.

«Figg di Herr Lerch» prangte die Antwort der Reitschule umgehend und grossformatig an ihren Mauern. Die neue Kampfansage war rasch allerorts zu sehen – auf der Strasse wie im Internet war ein wahrer Shitstorm losgetreten. «Mit dieser Konfrontation unter der Gürtellinie hatte ich nicht gerechnet», sagte der Sozialdemokrat Christoph Lerch gegenüber «Der Bund». Der beleidigende Leitspruch wurde vielseitig kritisiert. auch Figg-di-Frou-Müller-Initiant Loosli distanziert sich: «Das war eine andere Gruppe, die unseren Spruch übernommen hat.» Doch umstritten oder nicht – das Kampfmotto war gefunden und eignete sich als mediales Stück bestens. Zudem hatte die Jugend mit Herrn Lerch nun ein gemeinsames Feindbild, was bekanntlich eint.

«Das machen wir nicht mit»

Flurin Jecker, Blogger

«Das machen wir nicht mit», verkündete der Blogger Flurin Jecker in seinem Videoblog sowie in einem offenen Brief an den Regierungsstatthalter. Keinesfalls würde sich die Jugend um 0.30 Uhr vom Vorplatz, ihrem letzten freien Ort, wegbewegen, spricht der 21-jährige Biologiestudent eindringlich in die Webcam. Um sich darauf neckisch ein Szenario auszumalen: «Stellen Sie sich mal vor, was es für ein Fest wird, wenn 1000 Leute gleichzeitig den Vorplatz Richtung Stadt verlassen. Das wird geil!» Jeckers Videobotschaft fand ein beachtliches Publikum (nach zwei Tagen 6000 Likes) und wurde für viele zum Credo der Bewegung im Kampf gegen die Auflagen. Und seine Prognose sollte sich schliesslich auch bewahrheiten.


Teil 3 erscheint am Sonntag, 14. Oktober.