Ein Tanz um die Nacht: Teil 1, Feindbild Frau Müller

von Martina Kammermann 10. Oktober 2012

Was waren die Auslöser, wo waren die Anfänge? In einer dreiteiligen Geschichte blickt Journal B auf die Entstehung von «Tanz dich frei 2.0», der grössten Jugenddemo seit 1987 zurück.

Sie protestierten gegen Restriktionen im Nachtleben, gegen Konsumzwang, gegen Aufwertungspolitik, gegen spiessige Anwohner. Sie forderten mehr Partys, mehr Freiräume, mehr Clubs, mehr Kultur, mehr Dezibel. Sie wollten ein politisches Zeichen setzen, Knallpetarden zünden, feiern oder einfach nur zuschauen.

Zweifellos waren es ganz unterschiedliche Motivationen, die am 2. Juni 18’000 Demonstrantinnen und Demonstranten – gemäss Veranstalter – auf die Strassen der Berner Altstadt trieben. Das Fehlen einer eindeutigen Botschaft veranlasste im Nachhinein Medien und Politik, die gesellschaftliche Bedeutung dieser Demo, ja das Zusammengehen von Party oder Politik überhaupt, infrage zu stellen. besonders die Frage, ob das Volksfest wirklich eine «linke» Demo gewesen sei oder nicht, führte zu Diskussionen – und zahlreichen, teils recht peinlichen Vereinnahmungsversuchen.

Fakt ist, die Menschen waren da und haben die Stadt eine Nacht lang eingenommen. Auch wenn sie teilweise unterschiedliche Anliegen hatten – was bei dieser Masse ja eigentlich keine Überraschung ist –, gaben sie gemeinsam ihrer Unzufriedenheit Ausdruck. Doch wie kamen sie dahin? Wie hat man die ach so träge und apolitische Jugend mobilisiert?

Natürlich spielte Facebook als Medium eine Rolle. Wenn sich schon einmal 5000 Leute zu einer illegalen (von der Polizei aber wohl oder übel tolerierten) Tanzparty mitten in der Stadt angemeldet haben, will jeder wissen, was dort passiert. «Tanz dich frei» war ab einem gewissen Punkt ein Selbstläufer. Trotzdem muss irgendwo ein Anfang gemacht worden sein. Eine Botschaft formuliert, Sitzungen einberufen, Netzwerke mobilisiert und kommuniziert worden sein. Das Organisationskomitee von «Tanz dich frei 2.0» hält sich anonym und gibt hierzu keinerlei Auskunft. Doch auch ohne ihre Stimme zeichnet sich ab: Es war weniger eine durchstrukturierte Organisation, denn eine von vielen Ereignissen und Faktoren beeinflusste Dynamik, die diese grösste Jugenddemo seit 1987 ermöglichte.

«Für mich begann alles mit der Schliessung des SousSoul»

Terry Loosli, Kulturveranstalter

Ihre Geschichte beginnt im Sommer 2011, als sich ein paar Hundert Leute zu «Tanz dich frei 1.0» versammelten. Die Demo – sie war wohl aus der Familie der seit 2005 stattfindenden Tanzdemos «Dance out WEF» und «Dance out Moneymania» entsprungen – war klar antikapitalistisch und es wurde gegen Aufwertungspolitik, Ausgrenzung und Ausbeutung getanzt. Vom Thema Nachtleben keine Spur. Ein Jahr später ist alles anders. Was ist da bloss passiert, dass es zum Themenbruch, ja zum gemeinsamen Streich mit der kommerziellen Clubszene kam? Und wie wurden aus 700 Leuten 18’000?

«Für mich begann alles mit der Schliessung des SousSoul», sagt Terry Loosli. Der 34-jährige Kulturveranstalter hat die Ereignisse im Vorfeld der Demo nahe miterlebt und selbst «Netzwerkarbeit am Rande» betrieben. Der bald 70-jährige Berner Club musste wegen einer Klage von Frau C. Müller, einer zugezogenen Bewohnerin des Hauses, schliessen. «Das hat die Kulturszene hart getroffen, und von da an waren wir gewillt, etwas zu unternehmen.» Und das taten sie: «Figg di Frou Müller» hiess ab dem 15. Januar die Kampfansage eines losen Zusammenschlusses aus der empörten Kulturszene. Auf Facebook, auf Plakaten, T-Shirts und Bieruntersetzern wurde die Parole zelebriert. Für Frau Müller sicher nicht angenehm. «Frau Müller steht hier nicht für C. Müller, sondern für die typische Frau Schweizer», sagt Loosli, er war Mitinitiant der Aktion. So oder so interpretiert – die Aktion stiess auf Sympathie und hatte auf Facebook rasch 600 Likes. «Ich war überrascht, dass ein solcher Kraftausdruck so breit akzeptiert wurde», meint er nüchtern. Was er damals noch nicht wusste: bald würden noch Tausende mehr den Gefällt-mir-Button drücken.


Teil 2 erscheint am Freitag, 12. Oktober.