Ein Stoppsignal gegen die Zerstörung von Kunst

von Christoph Reichenau 29. März 2023

Ein Berner Anwalt fordert, dass die Entfernung des «Illustrierten Wandalphabets» im Schulhaus Wylergut gestoppt wird. Damit wird die Debatte rund um das umstrittene Wandbild neu lanciert.

Mit einer baupolizeilichen Anzeige fordert ein Berner Anwalt, dass die Vorarbeiten zur Entfernung des «Illustrierten Wandalphabets» im Schulhaus Wylergut eingestellt werden. Er verlangt, dass zuerst in einem Baubewilligungsverfahren darüber entschieden wird, ob das Wandbild überhaupt entfernt werden darf. Diese Entfernung soll für die Frühlingsferien geplant sein.

«Zu einem mir nicht bekannten, aber höchstens wenige Monate zurückliegenden Zeitpunkt ist ein Teil des Buchstabenalphabets zerstört worden», schreibt der Anwalt in seiner Anzeige. Das Bauinspektorat wird aufgefordert, der Stadt Bern unter Strafandrohung zu verbieten, am Fresko «Illustriertes Wandalphabet» weitere Eingriffe vorzunehmen. Ausserdem solle es verlangen, dass der rechtmässige Zustand des Wandbilds wieder hergestellt werde.

Die Vorgeschichte

Der Vorfall hat eine lange Vorgeschichte. Bei der Errichtung des Schulhauses Wylergut in den Jahren 1948/1949 erhielten die drei Berner Künstler Eugen Jordi, Emil Zbinden und Rudolf Mumprecht den Auftrag für die Kunst am Bau. Sie schufen auf der Aussenwand ein Fresko mit exotischen Tieren und einem weissen Mann als Zoowärter sowie das bebilderte Zifferblatt einer Sonnenuhr. Im Innern des Schulhaues gestalteten Jordi und Zbinden an der Treppe in das erste Geschoss das sogenannte «Illustrierte Wandalphabet». Es zeigt in quadratischen Feldern die einzelnen Buchstaben des Alphabets und verbindet diese bildlich mit einer Figur oder einem Gegenstand, dessen Anfangsbuchstabe gleich lautet.

Das Problem dabei: Der Buchstabe «C» wird mit dem Wort «Chinese» verbunden, bei «I» erinnert das Bild an ein Native American, bei «N» ist eine schwarze Person abgebildet. Es sind Wörter, die heute zu Recht als rassistisch verpönt sind und deshalb nicht mehr benutzt werden sollen.

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Jahrzehntelang ging die Schule Wylergut mit dem Wandbild achtsam um. Die Lehrerinnen und Lehrer betrachteten mit den Kindern die Bildtafeln, erklärten deren Inhalte und wiesen darauf hin, dass man heute zu den Buchstaben C, I und N sicher andere Sujets wählen würde als die dargestellten. Die Lehrpersonen liessen also die Kinder mit den Bildern nicht allein, sondern sie kontextualisierten diese: Sie nutzten die Tafeln, um den Kindern die Veränderung der Welt und die Veränderung ihrer Wahrnehmung anschaulich und einsichtig zu machen.

Die Kontroverse beginnt

Vor einigen Jahren entstand um das Wandalphabet in der Schule eine politisch-gesellschaftliche Kontroverse. Ihr Stand: Den städtischen «Wettbewerb zum Kulturerbe der Kolonialzeit: Das Wandbild Wylergut Bern als Beispiel» gewinnt 2020 ein Projekt, das die Wettbewerbsbedingungen über den Haufen wirft und fordert: «Das Wandbild muss weg!». Die von der Jury prämierte Idee: Das Fresko wird im Schulhaus abgelöst und einem Museum übergeben, das davon ausgehend eine Ausstellung zu den Themen Rassismus und Kolonialismus in Bern gestaltet. An die Kosten von Ablösung und Ausstellung will die Stadt Bern 55‘000 Franken beisteuern, die bedeutend höhere Restsumme muss das Projektteam selbst einholen.

Das Wandbild im Aussenbereich zeigt unter anderem einen Zoo mit Wärter. (Foto: Adrian Moser)

Heute sieht die Situation so aus. Das Projektteam hat sich als Verein konstituiert. Das Geld ist beisammen (dank Beiträgen unter anderem des Kantons, der Burgergemeinde Bern, der Stiftung Pro Helvetia). Das Bernische Historische Museum (BHM) ist bereit, das Wandbild zu übernehmen und die Ausstellung zusammen mit dem Projektteam zu gestalten. Die Hochschule der Künste des Kantons Bern (HKB) bzw. deren Fachbereich Konservierung und Restaurierung erforscht die technische Ablösbarkeit des Wandalphabets. Die städtische Denkmalpflege lässt es geschehen, wiewohl das Schulhaus als erhaltenswert klassifiziert ist. Die Abteilung Kultur-Stadt-Bern treibt das Projekt voran, obwohl die zur Entfernung des Wandbilds erforderliche Baubewilligung nicht vorliegt, wohl gar nicht beantragt wurde.

Journal B wird die Sache mit dem Wandbild in weiteren Artikeln von verschiedenen Seiten beleuchten.