Ein stimmungsvoller Familienroman

von Christoph Reichenau 24. Oktober 2022

Das Buch «Geschichte des Sohnes» der Französin Marie-Hélène Lafon, erschienen im Zürcher Rotpunktverlag, ist ein schöner, stiller Roman – und ein überzeugendes Ergebnis struktureller Verlagsförderung durch den Bund.

Alle paar Seiten habe ich das Bedürfnis, Stammbäume zu skizzieren, um im Reigen der Personen den Überblick zu behalten oder mir zu verschaffen. Und immer wieder unterdrücke ich das Bedürfnis, in den Atlas zu blicken auf die Seite, wo Frankreich, die Ardèche, der Cantal verzeichnet sind, in der Hoffnung, mir die so wichtige Landschaft besser vorstellen zu können, in der die beschriebenen Familien aufwachsen und in die sie regelmässig zurückkehren.

Die Geschichte, die Marie-Hélène Lafon erzählt, wurzelt tief in diesem ländlichen Teil Frankreichs und beschreibt zugleich allgemein gültige Formen von Familienleben in der Abfolge von fünf Generationen. Dies alles macht einen Teil des Lesezaubers aus, mit chronologischer Präzision, Lakonie und Lückenhaftigkeit. 140 Seiten reichen aus, eine Welt zu erschaffen, der man lange nachsinnt. Eine Welt, die in ihren alltäglichen Schrecknissen überraschend «heil» erscheint und die äusseren Katastrophen zweier Weltkriege und der Klimaerwärmung nicht noch vergrössern muss, um das Wichtige ins Zentrum zu rücken: Wie leben wir Menschen miteinander?

Marie-Hélène Lafon «Geschichte des Sohnes», Rotpunkt, 2022.

Der aus mehreren Perspektiven erzählte Familienroman kreist, voraus- und rückblendend, um existentielle Geschehnisse und Geheimnisse. Sie sollen hier auch nicht andeutungsweise verraten werden. Nur dies: Nicht um die Auflösung geht es, sondern um das Leben mit Ungeklärtem.

Das Leben spielt in den kleinen Städten, auf Plätzen mit Platanen, auf Hochebenen, die im Sommer heiss, im Winter rau und windig sind, in einer seit alters kultivierten Landschaft, die Heimat ist – zuweilen idealisiert, doch nicht beschönigt – und damit auch ein wenig eng, wo man liebevoll geborgen ist, aber auch beobachtet wird, wo Zugehörigkeit und Fluchtinstinkt nah beieinander liegen.

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An vielen Stellen ertappe ich mich fragend: Möchte ich da, möchte ich so leben, eingebettet in die ruhige Gewissheit der Tradition, der etwas langsamer verlaufenden Zeit, der von Generation zu Generation fest einzunehmenden Plätze in Familie und Gemeinschaft? So führt das Lesen zu einer Selbstbefragung, zu eigenen Antworten.

Der Zauber endet einmal, doch was ihn ausmachte, geht nicht verloren.

«Geschichte des Sohnes» ist die Geschichte jedes Sohnes einer Generation, stets anders, grundsätzlich gleich. Kein Hype neuer Identitäten und Lebensformen, keine Anklage wegen zu geringer Anerkennung von Minderheiten. Der Roman lässt eine Stimmung aufkommen, in der man lesend aufgehoben ist und wünscht, dass sie über das Ende des Buches hinaus anhält. Es ist wie in den Herbstferien, die viele Bernerinnen und Berner in jener Gegend verbringen: Der Zauber endet einmal, doch was ihn ausmachte, geht nicht verloren.

Marie-Hélène Lafons Buch ist mit dem renommierten Prix Renaudot ausgezeichnet worden. Andrea Spingler hat den einnehmenden Ton der ruhigen, gelassenen Sprache ins Deutsche übertragen, wie schon in Lafons früheren Roman «Die Annonce». Und der kleine Zürcher Rotpunktverlag präsentiert das Buch in der «Edition Blau». Das ist das literarische Programm des Verlags: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Übersetzungen aus den anderen Landessprachen. Eine feine Reihe, in der Cesare Pavese, Pascal Kramer, S. Corinna Bille, Fabio Andina oder Romain Gary vertreten sind. Man stellt sich gern das Regal vor, auf dem die schmalen Bände nebeneinander stehen, miteinander in Beziehung.

Der bunte Strauss weltliterarischer Entdeckungen

Und plötzlich wird man gewahr, welches Geschenk man in der Hand hält. Ein Geschenk wie jedes aus einer anderen Sprache auf Deutsch übersetzte Buch. Jemand hat es entdeckt, jemand hat es – zu meistens niedrigem Tarif – übersetzt, jemand hat es in das Verlagsprogramm übernommen und damit das Risiko, es hierzulande bekannt zu machen und zu verkaufen. Dies geschieht oft Jahre nach dem Erscheinen des Originals. So etwa bei Annie Ernaux, der neuen Nobelpreisträgerin aus Frankreich, auf deren Werke in deutscher Übersetzung man zwanzig Jahre warten musste.

Was man Weltliteratur nennt, ist kein systematisch an Qualität orientierter Kanon von Werken aus allen Sprachen. Es ist der bunte Strauss der Entdeckungen – man könnte auch sagen, das zufällige Ergebnis – vieler Verlage, geleitet von Vorlieben, Überzeugungen und Erwartungen. Manchmal hat eine Edition sich verschuldet, um die Übersetzerin oder den Übersetzer zu bezahlen, manchmal hat sich verlegerischer Mut aber auch ausgezahlt. Wagenbach etwa verdanken wir viele Bücher der italienischen Literatur. Dem Rotpunktverlag nun also Marie-Hélène Lafon.

Damit der Rotpunktverlag sein Programm stemmen und sich Recherche, Lektorat und Promotion leisten kann, wird er vom Bundesamt für Kultur wie derzeit 93 weitere kleine Editionen bis 2024 mit einem bescheidenen Strukturbeitrag unterstützt. Das ist wirtschaftlich bitter nötig – und literarisch  ein grosser Gewinn.

Marie-Hélène Lafon tritt am 26. Oktober bei «Zürich liest» um 19:30 Uhr im Karl der Grosse auf, zum ersten Mal in der Deutschschweiz.

«Geschichte des Sohnes» und «Die Annonce» sind in der ARD-Audiothek als integrale Lesungen zu hören.