Ein Sprung ins Ungewisse

von Ale 17. Oktober 2024

Vista-Activa Ale zog vor fast fünf Monaten von Italien nach Bern. Hier fand sie nicht nur eine neue Heimat, sondern auch eine lebendige Aktivist*innen-Szene vor.

Als EU-Bürgerin habe ich immer an die Schweiz gedacht als einen besonderen Ort. Ein friedlicher Raum mit Bergen und Seen. Ein Land, das neutral ist, und wo man auch Italienisch spricht. Ich konnte mir nicht vorstellen, dort zu wohnen, aber eigentlich habe ich darüber nicht so viel nachgedacht. Das war so, bis ich eine Anzeige für ein Praktikum in Bern gelesen habe. «Wieso nicht?» dachte ich, als ich meine Bewerbung geschickt habe.

Für das Vorstellungsgespräch musste ich nach Bern kommen. Aus meinem Dorf in Italien braucht man etwa sieben Stunden mit dem Zug. Bern schien mir so gross, dieses erste Mal, als ich aus dem Bahnhof raus ging. Es gab viele Leute mit dem Velo – etwas, was ich in Italien leider nicht so oft sehe. Ich hatte nicht viel Zeit, um die Stadt zu besichtigen, und ein Teil von mir wollte das auch nicht. Ich glaubte, dass mir Bern wahrscheinlich gefallen würde, und dann wäre ich noch trauriger gewesen, falls ich die Stelle nicht bekommen hätte. Aber ich habe sie bekommen.

In Italien war ich eine Klimaaktivistin bei Fridays for Future – eine Erfahrung, die mich völlig verändert hat – und ich wollte probieren, mit dem Aktivismus auch hier weiterzumachen.

So bin ich in den Mattenhof gekommen. Sofort habe ich bemerkt, dass die Leute allgemein eine offenere Mentalität haben als in Italien. In meinem Quartier gibt es viele Flaggen, die ein Symbol für viele Kämpfe für Gerechtigkeit sind. Viele Personen haben mir aber sehr früh gesagt, dass die Leute in der Schweiz sehr kalt und zurückhaltend sind. Trotzdem habe ich oft das Gefühl, dass die Leute hier sehr offen mit Unbekannten sind. Oft habe ich nette Gespräche mit Mitarbeiterinnen in Geschäften und viele Frauen lächeln mir im Bus oder auf der Strasse zu.

Jetzt, nach fast fünf Monaten hier, kann ich mir sehr gut vorstellen, hier zu bleiben. Ich lächle, wenn ich die Landschaft aus dem Fenster im Zug sehe. Wenn ich Gruppen von Freund*innen oder Paare an der Aare sehe.

Nach ungefähr einer Woche hier habe ich an einem Treffen des Klimastreik Bern teilgenommen. Vor meiner Ankunft hatte ich gesehen, dass es in Bern viele Kollektive und Aktivist*innen gibt. In Italien war ich eine Klimaaktivistin bei Fridays for Future – eine Erfahrung, die mich völlig verändert hat – und ich wollte probieren, mit dem Aktivismus auch hier weiterzumachen. Ich fand es so cool, dass die Zeichen (Handzeichen, die während einer Sitzung benutzt werden, etwa um eine Pause zu machen oder um zu sagen, dass man mit etwas einverstanden ist, also eine Form von nonverbaler Kommunikation) für die Sitzungen dieselben wie in Italien sind. Die Plakate der vergangenen Streiks gaben mir Mut und erinnerten mich auch daran, was wir noch machen müssen, um eine gerechte Zukunft zu bauen. Bisher habe ich nur mit wenigen Aktivist*innen gesprochen, aber sie waren, wie in Italien, alle sehr nett und freundlich. Es ist so schön, mit Unbekannten zu sprechen und dann zu bemerken, dass wir schon etwas Besonderes gemeinsam haben, auch wenn wir uns nicht kennen: den Wunsch für Personen, ihre Rechte, Tiere und die Welt allgemein zu kämpfen, immer mit Mut, aber auch mit Empathie und Liebe.

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Jetzt, nach fast fünf Monaten hier, kann ich mir sehr gut vorstellen, hier zu bleiben. Ich lächle, wenn ich die Landschaft aus dem Fenster im Zug sehe. Wenn ich Gruppen von Freund*innen oder Paare an der Aare sehe. Wenn ich die begeisterten Tourist*innen sehe, wenn sie auf den gleichen Strassen sind wie ich, wenn ich jeden Tag zur Arbeit gehe. Wenn ich etwas auf Schweizerdeutsch verstehe. Wenn ich sehe, dass manchmal Bücher oder Kleidung auf der Strasse zurückgelassen wurden, damit sie wieder von anderen Personen benutzt werden können. Wenn Leute sich im Bus erkennen und zusammen sitzen, um ein bisschen zu quatschen. Wenn ich als Veganerin nicht mehr als «seltsam» angesehen werde. Wenn ich schon nach 30 Minuten Zugfahrt beginne, Französisch zu hören.

In das Ausland zu ziehen ist ein Risiko: Man wird mit einer neuen Sprache konfrontiert, einer neuen Kultur und neuen Leuten. Es ist nicht einfach und deshalb fühle ich mich manchmal auch alleine. Aber ich glaube, dass mir der Klimastreik mit diesen Erfahrungen helfen wird, denn so habe ich schon ein paar Leute kennengelernt, die eine ähnliche Meinung wie ich haben. Dadurch kann dieses Ungewisse, in das ich gesprungen bin, auch angenehm sein. Ich probiere, mir Zeit zu lassen. Langsam.