«Ein Schub hin zu mehr Mut»

von Jessica Allemann 2. Dezember 2012

Die Wissenschaftlerin Cristina Urchueguia gibt Auskunft über das Berner Chorleben und darüber, wie die verschiedenen Chöre neuen Herausforderungen begegnen und was es braucht, um als Chorleiterin oder Chorleiter Erfolg zu haben.

Bern besitzt eine vielseitige Chorlandschaft: Während sich die einen Chöre bestimmten Epochen verschrieben haben, bleiben andere einem Komponisten treu. Manche widmen sich vorzugsweise geistlichen Werken oder pflegen eine Vorliebe für eine spezielle Musikpraxis wie beispielsweise die Venezianische Mehrchörigkeit des 16. Jahrhunderts. Einige singen mit Vorliebe spirituelle Werke, manche Chöre sind politisch oder ihrem Quartier besonders verpflichtet. Wieder andere konzentrieren sich auf ihren Berufsstand oder auf ihre Geschlechtszugehörigkeit – auch sinnliche Neigungen können einen Chor zusammen halten. Eines haben aber alle Chöre gemeinsam, die Leidenschaft des gemeinsamen Singens – und sie wurden von Cristina Urchueguia, Musikwissenschafterin und Professorin am Institut für Musikwissenschaft der Universität Bern, untersucht. Im Interview gibt sie Auskunft über das Berner Chorleben und dessen Wandel.

Sie haben in einem früheren Interview von der Beziehung der LaienmusikerInnen zu ihrem Ort gesprochen. Was zeichnet die Beziehung der rund 3000 Chorsängerinnen und Chorsänger zur Stadt Bern aus?

Prof. Cristina Urchueguia:

Es ist eine Wechselbeziehung eigener Art. Zum einen ist die Verankerung der Chorsänger in der Stadt und den Quartieren sehr stark. Die Vereine bilden ein starkes Netzwerk, das als Ansprechpartner für viele Aspekte des sozialen Lebens fungiert. Andererseits gibt das Format «Chor» neuen sozialen Interessensgruppen die Möglichkeit zur sicht- und hörbaren Integration. Sonst versteht sich nicht, dass in letzter Zeit gerade Migranten-Chöre unter den Neugründungen Hochkonjunktur geniessen. Allen Chören ist gemeinsam, dass sie am Musikleben der Stadt gleichberechtigt teilnehmen wollen. Ohne sie wäre dieses nämlich erheblich ärmer.

Ihre Studien haben ergeben, dass es (Kirchen- und Schulchöre nicht eingerechnet) rund 90 Chöre in der Stadt Bern gibt. Was ist ihre besondere Leistung für die Stadt Bern? 

Im 19. Jahrhundert haben die Chöre die Grundversorgung der Stadt mit Musik gewährleistet. Profichöre gab es nämlich nicht. Dies hat sich nicht wirklich verändert, denn heute würde man ohne Laienchöre weder in der Kirche, noch in der Schule noch im Konzert Chormusik in Bern hören, das ist doch eine phänomenale Leistung. Durch ihre Vielfalt ist das Angebot sehr gross. Zudem sind Chöre die einzigen musikalischen Ensembles, die es erlauben, Menschen mit geringen musikalischen Vorkenntnissen an anspruchsvollen Musikprojekten zu partizipieren. Aus der musikpädagogischen Perspektive ist ihr Einfluss daher sehr positiv zu bewerten. Dies sind aber nur die musikalischen Aspekte, soziologisch betrachtet tragen die Chöre zur Integration von Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Alters in das gesellschaftliche Leben bei, und sie bieten auch die Möglichkeit, sich mit der eigenen Identität als Kulturgruppe auseinanderzusetzen. Wenn etwa ein Jodlerchor den «Internet-Jodler» ins Programm nimmt, setzt er sich humoristisch mit dem Spagat zwischen Tradition und Modernität auseinander statt dem Kulturpessimismus zu frönen.

Wie vielfältig ist Berns Chorlandschaft wirklich, wenn man die Programme der Aufführungen betrachtet? Teilen sich viele Chöre wenig Literatur, weil das finanzielle Risiko von bekannten Werken kleiner ist als das Aufführen von wenig bekannten oder zeitgenössischen Werken?

Was die Vielfalt in der Chorlandschaft ausmacht, ist die unterschiedliche Ausprägung der Chöre: Vom traditionsreichen Oratorienchor über den Männer- und Frauen-, Gospel-, Volks- und Jugendchor bis zum Jodlerclub findet jeder Musikgeschmack eine passende Gruppe. 

Trotzdem sollte man sich über- legen, ob das System nicht einen Schubs hin zu mehr Mut verträgt.

Cristina Urchueguia, Assistenzprofessorin am Institut für Musikwissenschaft der Universität Bern

Anders verhält es sich sicher mit dem Repertoire. Hier stellt man fest, dass sich viele Chöre aus der Sparte der klassischen Chormusik (Bach bis Kodaly) an einem recht engen Kanon orientieren. Dies liegt nicht zuletzt an den Erwartungen des Publikums, das Experimente nicht immer honoriert. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Chöre weitestgehend das finanzielle Risiko bei einem Konzert tragen. Die Zeiten, in denen die Berner Stadtchöre den Gewinn ihrer Konzerte grosszügig an Waisenhäuser, Katastrophenopfer oder andere Bedürftige spendeten, sind definitiv vorbei. Andererseits besteht von Seiten der Chorsänger sicher der Wunsch, die wichtigen Werke der Chorliteratur zumindest einmal gesungen zu haben. Und: Chöre, sind in allererster Instanz für die Chorsänger da und sollten deren Bedürfnisse ins Zentrum stellen. Trotzdem sollte man sich überlegen, ob das System nicht einen Schubs hin zu mehr Mut verträgt.

Viele ChorleiterInnen klagen über den fehlenden Nachwuchs. Ist Chorsingen nicht mehr zeitgemäss?

Chorsingen gerät nicht aus der Mode, keine Bange, nur werden wir nie wieder zur Situation im 19. Jahrhundert zurückkehren, in der Chorsingen ein fast konkurrenzloses Angebot darstellte. Heute ist das Chorsingen eine Option unter vielen, die Freizeit kreativ zu gestalten. Die Statistik zeigt aber, dass die Befürchtungen eher unbegründet sind. Die historische Analyse der Entwicklung in Bern bestätigte, dass Chöre, die ihr Profil stets diskutieren und mit den gesellschaftlichen Prozessen in Einklang bringen durchaus ein langes Leben beschieden ist.

Manchen Chören geht möglicherweise bald die Puste aus. Ihnen fehlt der Nachwuchs, und die finanziellen Herausforderungen für Chorliteratur, Orchester, Solistinnen und Solisten, Öffentlichkeitsarbeit scheinen für manche kaum mehr tragbar zu sein. Sehen Sie ein sich abzeichnendes Ende einer langen Berner Chortradition?

Ich prognostiziere kein Ende, sondern eine Veränderung. Die allgemeine Entwicklung der Gesellschaft, in der Menschen weniger sesshaft sind, und in der sich Arbeitsverhältnisse nicht mehr von der Lehre bis zur Pension als Kontinuität planen lassen, machen es Chören mit einer rigiden Organisationsstruktur schwer, neue Mitglieder zu gewinnen. 

Wenn man die historischen Berichte liest, erhält man den Eindruck, dass die Selbstwahrnehm- ung der Chöre immer vom Gefühl der Bedrohung geprägt war.

Cristina Urchueguia, Assistenzprofessorin am Institut für Musikwissenschaft der Universität Bern

Wer kann sich heute noch verbindlich auf Jahre hin jede Woche für die Probe, für Probenwochenden und für Konzerte verpflichten? Die Kehrseite ist aber, dass sich neue Organisationsstrukturen bilden, wie die Projektchöre, die viel flexibler operieren und auf die Veränderungen im Berufsleben der Mitglieder reagieren können. Ein anderer Aspekt betrifft die demographische Entwicklung. Chöre spiegeln die alternde Gesellschaft wider, daher sollte man die älteren Sänger fördern und verwöhnen statt sie, wie es häufig geschieht, regelrecht auszumustern. 

Auch bezüglich der hohen Kosten können die neuen Medien etwa im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit oder der Versorgung mit Literatur für Effizienz und Ersparnisse Sorgen. Das Internet ist vollgestopft mit unbekannter und sehr guter Musik, die man umsonst herunterladen kann, zentralisierte Internetplattformen könnten das Problem der Archivierung von Daten und der Veröffentlichung von Information lösen.

Welches sind die Strategien der Berner Chöre, trotz schwieriger werdenden Bedingungen, weiter zu bestehen?

Wenn man die historischen Berichte liest, erhält man den Eindruck, dass die Selbstwahrnehmung der Chöre immer vom Gefühl der Bedrohung geprägt war. Im Ergebnis war dies aber keineswegs der Fall. Das Rezept für das Bestehen ist einfach zu beschreiben aber schwer in konkrete Massnahmen zu übersetzen: Wem der Konsens zwischen den musikalischen Wünschen und den gesellschaftlichen Entwicklungen gelingt, ist das Überleben der Chöre garantiert. 

Chorleiterinnen und -leiter sind oft die einzigen Berufsmusiker in einem Chor. Sie gehen in ihrem künstlerischen Schaffen mit dem Chor Kompromisse ein und schlüpfen in der Rolle des Musikers oder der Musikerin auch in die Rolle des Lehrers oder der Lehrerin. Woher nehmen sie ihre Motivation, sich für das chorische Schaffen zu engagieren?

Sicher, die Chorleiter sind aber auch einzigen, die für die Arbeit im Chor bezahlt werden. Es wäre falsch die Berner Chöre unserer Studie mit Profi-Chören zu vergleichen. Letztere sind Hochleistungssportler, die davon leben, auf Nachfrage Spitzenleistungen zu liefern, und diese dank langjähriger Ausbildung auch liefern können. Erstere sind Personen, die sich die Zeit für die musikalische Betätigung aus der Rippe schneiden und bezüglich ihrer musikalischen Vorbildung sehr heterogen sein können.

Die ChorleiterInnen, deren Karriere ich durch unsere Recherchen nachvollziehen konnte, waren nicht nur herausragende Musikerpersönlichkeiten, sie waren passionierte Chorleiter, die ihren Sängern dank hervorragender pädagogischer Fähigkeiten und einer grossen Portion Charisma Leistungen abgewinnen konnten, die die Sänger selbst in Erstaunen brachten. Ich kann mir gut vorstellen, dass viele Chorleiter darüber sehr stolz sind. 

Welche Eigenschaften sollten Berner Chorleiterinnen und Chorleiter mitbringen, um in der Berner Chorlandschaft Erfolg zu haben?

Respekt für die Arbeit der Chöre, Leidenschaft und Charisma, Geduld, Phantasie bei der Suche nach immer neuen Herausforderungen, Einfühlungsvermögen für die Bedürfnisse der Chorsänger aber auch der Gesellschaft.

Die Berner Chorleitenden kennen sich einander, scheinen sich gegenseitig zu beobachten und ihr Schaffen zu bewerten. Wie stark ist das Konkurrenzdenken?

Selbstverständlich müssen sich die Chorleiter ein Bild über das Geschehen machen, schliesslich wollen sie mit ihrem Chor etwas Besonderes anbieten. Gegen diese Art von Konkurrenz habe ich persönlich nichts.

Lassen sich die Chorleiterinnen und Chorleiter in zwei «Glaubensrichtungen» unterteilen: Jene, welche höchste Qualität anspruchsvoller Werke als oberste Priorität ansetzen auf der einen Seite, und die anderen, welche das Zusammengehörigkeitsgefühl und das gemeinsame Musizieren in den Fokus stellen auf der anderen Seite?

Beides spielt immer mit verschiedenen Gewichtungen eine Rolle. Es gibt aber genauso viele erfolgreiche Psychogramme eines Chorleiters, wie es Chöre gibt.

Es gibt aber genauso viele erfolgreiche Psychogramme eines Chorleiters, wie es Chöre gibt.

Cristina Urchueguia, Assistenzprofessorin am Institut für Musikwissenschaft der Universität Bern

Es wäre jedoch völlig falsch die innere Struktur eines Chores und die Prioritäten hinsichtlich musikalischer oder sozialer Aspekte ausschliesslich auf den Chorleiter zurückzuführen. Das Profil und das Innenleben eines Chores werden von den Chorsängern und den von ihnen gewählten Lenkinstitutionen bestimmt. Der Chorleiter ist in gewissem Sinne eine ausführende Person, die den Charakter des Chores akzeptiert und ihn aber auch anspornt. Sie interpretieren die Bedürfnisse des Chores und übersetzen sie in musikalische Produktion. Gelingt die Balance zwischen der Chorleitung und den Sängern nicht, müssen sie sich über kurz oder lang trennen. Gelingt sie, so kann sie Wunder bewirken.