Ein Schatz von Liedern für den Widerstand

von Thomas Göttin 28. Oktober 2023

Widerstandslieder Ein in jeder Hinsicht atemberaubendes Ereignis hat am letzten Sonntag, 22. Oktober 2023 in der Cinématte stattgefunden: Die Vernissage von «Lieder der Sklaverei und der Emanzipation». Das sind ein Film, ein Buch und eine CD mit Songs und Songtexten, herausgegeben von Mat Callahan. Mit dabei die Sängerin Yvonne Moore, die auf vielen Songs zu hören ist.

Mat Callahan stammt aus San Francisco, Yvonne Moore aus Schaffhausen. Beide leben in Bern und engagieren sich seit Jahren für die Musik des Widerstandes und dessen historische Wurzeln. Schon früher haben sie vergessene Lieder von Gewerkschafter*innen veröffentlicht. Mit den Liedern zur Sklaverei haben sie jetzt einen unglaublichen Schatz geborgen, dessen Bedeutung sich erst mit der Zeit ermessen lassen wird. Es handelt sich nicht etwa, um die als Musiksammlung bekannten, oft verschlüsselten und religiös geprägten «spirituals». Vielmehr sind es Lieder von Sklaven oder ehemaligen Sklaven, meist Männern, die von Widerstand, Rebellion, Flucht und unerträglichem Leid handeln. Die Texte sind klar und direkt, manchmal witzig oder eine Umdeutung von bekannten Liedtexten.

Erhebt euch! Erhebt euch! Wehrt die Ketten ab
Eure Sache ist gerecht, so der Himmel es befiehlt
Wird die Freiheit für euch ausgerufen werden.

Das sind Zeilen aus einem Song von 1813, der in South Carolina bei einem heimlichen Treffen zur Planung eines Aufstandes komponiert und gesungen wurde. Mat Callahan hatte ihn in einer vergessenen Broschüre von 1939 in einem Antiquariat aufgestöbert.

Der Song «The Dirge of St.Malo» von 1784, aufgenommen in New Orleans (Foto: Filmstill aus Lieder der Sklaverei und der Emanzipation).

Der Film dokumentiert das Aufspüren der Lieder und wie sie mit Chören und Solist*innen, vor allem in den USA, neu aufgenommen wurden. Mat und Yvonne haben seit sechs Jahren am Film gearbeitet, unterbrochen von der Pandemie. Das Buch beschreibt die Hintergründe und den historischen Kontext. Die CD enthält über 30 Sklaven- und Abolitionisten-Lieder mit einem erweiterten Textbuch.

Auch für die USA neu entdeckt

Eindrücklich zeigt der Film, welche Wirkung diese Lieder auf Schwarze Musik-Wissenschaftler*innen, Sänger*innen oder Gemeinschaftsarbeiter*innen in den USA haben: Ihnen allen war diese Musik völlig unbekannt. Das Nachdenken über die eigene Geschichte, die Überraschung, Freude und Stolz lassen sich in jeder Einstellung mitverfolgen. Die Aufnahmen der Songs – nur mit einem Raum-Mikrofon vorgenommen – sind plastisch, authentisch, schlichtweg umwerfend.

Msiba Ann Beard Grundy, ehemalige Studentin des Berea College: «Diese Musik zwingt uns, absolut klarsichtig zu sein – kein Osterhase in dieser Geschichte – wogegen wir Widerstand leisten müssen» (Foto: Filmstill aus Lieder der Sklaverei und der Emanzipation).

Auch die Lieder der Abolitionisten-Bewegung erscheinen in neuem Licht. Viele stammen ebenfalls von geflüchteten Sklaven oder freien Schwarzen. Die Lieder dienten der Mobilisierung, dem Zusammenhalt und der Verbreitung der Argumente für die Abschaffung der Sklaverei.

Wer sind die, die laut verkünden,
Dass die ganze Menschheit ihre Rechte teilen sollte;
Aber die Sklaven sollten ihre Ketten tragen?
Es ist eine Bande von Dieben.

Zentrales Thema

In den Jahren vor und bis zum Bürgerkrieg 1861-65 beherrschte der Kampf um die Abschaffung der Sklaverei nicht nur die politische Agenda, sondern wirkte tief ins alltägliche Leben der amerikanischen Gesellschaft. Im Bürgerkrieg beteiligten sich bis zu 200’000 Schwarze Soldaten auf Seiten der Union. Und Hunderttausende Männer und Frauen halfen hinter dem Schlachtfeld.

Hat jemand meinen Massa gesehen
Mit dem Schnurrbart im Gesicht?
Geht die Strasse runter heute Morgen
Als ob er sich davon machen wollte.
Der Massa rennt, ha, ha!
Der Schwarze bleibt, ho, ho!
Es muss das Königreich gekommen sein
Und das Jahr des Jubels

Die Grösse des Themas, die Weite Amerikas gegenüber dem kleinen Kino in der Cinématte mit den eindrücklichen Persönlichkeiten von Mat und Yvonne vor dem Publikum, die selbst einige der Lieder sangen – all das bildete anlässlich der Vernissage einen intensiven Kontrast, bei dem ich kaum wusste wohin mit all den Gefühlen. Beim anschliessenden Gespräch wurde deutlich, wie wenig heute, an Demos oder bei der Klimabewegung, das Singen von Liedern eine Rolle spielt. Mat Callahan und Yvonne Moore haben einen reichen Schatz zur Verfügung gestellt. Dieser Schatz von Liedern erzählt die Geschichte eines grossen Kampfes, er macht Mut und lädt uns ein, davon für die kommenden Auseinandersetzungen neuen Gebrauch zu machen.

Zugängliches Wissen

Mat Callahan und Yvonne Moore bleiben sich auch treu in der Verbreitung und der Handhabung der Rechte. Sie teilen ihr Wissen und Können und die Musik mit allen, die interessiert sind: Sie kommen gerne in Schulen, zu Chören oder Kirchgemeinden. Gelder aus dem Verkauf der Bücher und CD‘s und den Lizenzgebühren gehen an die Teilnehmenden des Projektes. Spenden oder Gagen aus Filmvorführungen und Auftritten gehen an den Verein «Art in History and Politics».  Der Film ist auf YouTube frei verfügbar. Buch und CD sind erhältlich direkt beim Verlag Ibidem.

Tonaufnahmen in Bern mit Mat Callahan (hinten links mit Mütze) und Yvonne Moore (vorne rechts). (Foto: Filmstill aus Lieder der Sklaverei und der Emanzipation).