Ein Riss zieht sich durch den grossen mittleren Pfeiler der Kirchenfeldbrücke. Als lange, dunkle Linie erkennbar zeigt er sich den Betrachtenden, in deren Rücken die Altstadt liegt und die Richtung Kirchenfeld schauen. Der trotz seiner Feinheit in der Wirkung monströse Riss braucht aber nicht zu beunruhigen. Ein Blick auf das metallene Geländer an der darunterliegenden Aarstrasse offenbart eine grosszügig bemessene Plakette. Darauf geschrieben die Frage: «Welchen Umgang haben wir mit unseren Unsicherheiten und wäre es nicht schön, diese einander zu zeigen?»
Eine nächtliche Kunstaktion also? Eine aktivistische Kunstform? Ein künstlicher aktivistischer Einschlag? Hinweise auf den oder die Künstler*in finden sich kaum. Auf der Plakette erwähnt ist die bisher unbekannte «Fachstelle für öffentliche Irritationen und Intervention». Der Name ist in der Tat Programm. Das Bild des Risses hinterlässt Fragen und Ungewissheit, was wohl im Sinne der Malenden liegen mag. Sie zielen im Grossformat auf Feinstoffliches ab.
Unsicherheit ist zuerst mal die Abwesenheit von Sicherheit. Letzterer Begriff ist in der politischen Landschaft gleichzeitig Versprechen, Wunsch und Stein des Anstosses. Das Gefühl von (Un-)Sicherheit zeigt sich jedoch zuallererst auf innerpsychischer Ebene und ist frei vom politischen Schlagwort. Unsicherheit ist ständiger Begleiter unseres Alltags – oft im Umgang mit anderen Menschen, zuweilen auch allein in der Beschäftigung mit uns selbst. Insbesondere die psychologische Betrachtung zielt oft auf den Begriff der Selbstsicherheit und die Stärkung derselben ab. Der Riss in der Brücke kratzt nun aber an der einfachen Logik der Stabilität. Wenn schon der mit Stahlbeton ummantelte Pfeiler der 137-jährigen Brücke sich aufzutrennen droht, wie instabil und verletzlich sind denn wir, die teils täglich darüber wandeln.
Es fällt schwer, das Auftauchen des Risses nicht vor dem Hintergrund der aktuellen pandemischen Lage zu interpretieren. Unsicherheit über die Zukunft, im Umgang mit Mitmenschen, in der Beurteilung von Richtig und Falsch sind Begleiter dieses Jahres. Mit Fakten, Überzeugungen und Positionen werden diese Unsicherheiten überspielt und verneint. Inwiefern diese Situation die Entstehung des grossformatigen Gemäldes inspiriert hat, bleibt offen.
Der deutsche Psychologe Dietrich Dörner schrieb 1983, dass «Unbestimmtheit bei einem Lebewesen in um so höherem Maße auftaucht, je weniger es die Sachverhalte seiner Umgebung kategorisieren kann, je weniger es die zukünftigen Zustände der Komponenten der gegenwärtigen Situation voraussehen kann und je weniger es Verhaltensweisen kennt, die es von der augenblicklich vorhandenen Situation zu der von ihm gewünschten bringen.» Was in Dörners wissenschaftlicher Analyse Unbestimmtheit heisst, nennen wir im Alltag Unsicherheit.
Von weiteren grossen Rissenin Bern ist bisher nichts bekannt. Möglicherweise treten sie bald an anderen Grundpfeilern auf? Oder zeigen sich im nächsten Gespräch mit einer Person, deren Fassade sonst kaum den Putz darunter erahnen lässt?
Wenn sich ein Riss durch Bausubstanz zieht, wird vermessen, die Ursache gesucht und das Gebäude vorsorglich geräumt. Es darf vermutet werden, dass mit diesem Riss anders umgegangen wird. Mit Lackentferner behandelt und abgebürstet könnte der Riss schon bald Geschichte sein und das Sandgrau des Pfeilers nichts mehr erahnen lassen.
Es wäre der übliche Modus im Umgang mit Instabilitäten oder eben Unsicherheiten. Auch die Kirchenfeldbrücke wurde vor zwei Jahren saniert. «An der Tragkonstruktion der Berner Kirchenfeldbrücke sind Schäden aufgetreten, die eine Verstärkung der Brücke nötig machen», schrieb die sda damals. Persönliche Unsicherheiten sind nun aber anders gelagert als bauliche. Der Riss und das Minimum an Einordung, welches die Tafel bietet, scheinen eine Lanze fürs Aushalten des Unbestimmten und Wackligen zu brechen. Für eine Offenlegung der Unsicherheit, für ein Zeigen des Verletzlichen.