Ein Pionier verlässt das Haus der Religionen

von Rita Jost 13. September 2019

Vor fünf Jahren wurde in Bern das Haus der Religionen eröffnet. Das «Jubiläum» am 14. Dezember wird nicht im grossen Stil gefeiert. Business as usual ist angesagt. Für einen aber wird es der letzte Arbeitstag sein: David Leutwyler, der erste Geschäftsführer am Europaplatz, verlässt das Pionierprojekt und wird neuer «Beauftragter für kirchliche und religiöse Angelegenheiten» beim Kanton.

Jetzt könne er noch recht gelassen an diesen Abschied denken, sagt der 40-jährige bei einem Kaffee im morgendlichen Trubel des Hauses, noch sei so viel zu tun: «Aber die Emotionen kommen bestimmt noch.» Es werde hart sein, sich vom Team zu verabschieden und den Schlüssel abzugeben. Obwohl, so Leutwyler, «für mich stimmt der Zeitpunkt.» Er habe immer lieber gesät als geerntet. Und schiebt dann selbstkritisch nach: «Pionierarbeit ist ja auch einfacher. Man kann ausprobieren, sich Fehler erlauben. Die Arbeit dann verbindlich zu strukturieren, sie längerfristig zu verankern: das ist anspruchsvoll und wohl weniger mein Ding». Und dann zählt er auf, was er alles angepackt und angeschoben hat, nach seiner ersten Stelle als Lehrer vor zwanzig Jahren: Zivildienst an der EXPO02, Jugendarbeit in einer Kirchgemeinde, Radiojournalismus, Koordinator an der Euro08, Autor eines Roman- und Theaterprojekts, «das allerdings nie über die ersten Seiten hinauskam», wie er lachend zugibt…

Und irgendwann in diesen Jahren zwischen 20 und 30 auch Heirat, Kinder und vorher noch: der Entscheid zu studieren. Theologie. Zur grossen Verwunderung seiner WG-Mitbewohner. Er habe wohl ein bisschen provozieren wollen, meint er rückblickend. Es ist nichts daraus geworden. Denn drei Wochen nach Studienbeginn, sattelte er um auf das damals ganz neue Studienfach «Religious Studies». Und obwohl er damals noch nicht so genau wusste, wohin ihn dieses Studium führen könnte, wusste er ziemlich genau, warum es dieses Fach sein sollte: «Ich habe mir gesagt, wenn ich mich beruflich mit den existentiellen Fragen beschäftigen kann, dann habe ich in der Freizeit etwas mehr Zeit fürs Fussball-schauen.»

Diese lockere Offenheit, diese unverkrampfte Sicht auf sich und die Dinge bei gleichzeitiger Ernsthaftigkeit, sie zeichnen Leutwyler aus. «Er ist einer, der sich nie verstellt, er begegnet jedem genau gleich, dem Dalai Lama genauso wie dem Gärtner oder dem Handwerker», so formuliert es ein Teammitglied. Und ein anderer meint: «Er kann zuhören, zupacken und auch mal Pflöcke einschlagen.» Und eine junge Mitarbeiterin nennt ihn kurz und bündig «chaosresistent». Leutwyler schmunzelt. Das sei wohl einfach eine nettere Umschreibung von «chaotisch».

Doch nein: seine Vielseitigkeit, seine natürliche Autorität gepaart mit viel Wissen und Erfahrung und einem grossen Mass an Flexibilität und Offenheit, das zeichnet ihn aus. Leutwyler kann es nicht abstreiten. Und doch, auch er gibt zu, dass seine Chaosresistenz am Arbeitsplatz Folgen hat fürs Privatleben. «Ich bin abends oft komplett leer». Die Auseinandersetzungen mit den vielen verschiedenen Parteien, die stete Präsenz und die totale Identifikation mit dem Projekt: sie haben ihm auch zugesetzt. «Aber», sagt er, «es war eine Superzeit. Und ich sage mir, was ich bisher nicht geschafft habe, würde ich wohl auch in Zukunft nicht schaffen.»

Pionierarbeit

Fünf Jahre Europaplatz, davor vier Jahre engagiert im Projekt. David Leutwyler kam als Zivildienstleistender ins Provisorium Haus der Religionen an der Laubeggstrasse. Nicht, weil er einen Master in «Religious Studies» vorweisen konnte, sondern weil er den damaligen Projektleiter, Hartmut Haas, beeindruckte mit seinem damaligen Nebenjob: er war Hauswart in einem Ausserholliger Mehrfamilienhaus. «Das hat Hartmut offenbar überzeugt,» wundert sich Leutwyler heute noch ein wenig, «aber eigentlich ists logisch, das Projekt steckte noch in den Kinderschuhen, man musste überall anpacken». Als dann die erste grosse Spende eintraf, das Projekt etwas konkreter wurde, konnte der Zivi zum Bildungsbeauftragten mit 60-Prozent-Pensum befördert werden. Und zwei Jahre und ein Nachdiplom später wurde er zum Geschäftsleiter gewählt. Es folgte die ganz anstrengende Bauzeit am Europaplatz und schliesslich – im Dezember 2014 – die Eröffnung des Pionier- und Vorzeigeprojektes.

Aufbauzeit

Und seither haben über eine halbe Million Menschen das Haus am Europaplatz besucht. Medienleute aus halb Europa haben darüber berichtet und etliche Politiker und religiöse Würdenträger wurden empfangen. Wo man hinhört gibt es nur gute Rückmeldungen zum Betrieb und dem Zusammenleben von fünf Religionen unter einem Dach. Aber das Projekt ist nicht nur ein Vorzeigehaus, es ist auch ein Lernblätz für alle, die dort arbeiten. Nach seiner ganz persönlichen Erkenntnis nach neuneinhalb Jahren Einsatz für multireligiöse Zusammenarbeit gefragt, denkt David Leutwyler lange nach. Dann formuliert er es so: Der Ausbruch aus dem eigenen religiösen und kulturellen Koordinatensystem ist hier zwingend. Das ist unheimlich herausfordernd. Als weisser, hier aufgewachsener, der Mehrheitsreligion angehörender Mann erlebe er die Welt so anders als beispielsweise eine hinduistische Frau.

Er müsse sich beim Suchen von Lösungen immer wieder zwingen, seine Perspektive zu verlassen und versuchen, die Optik der anderen einzunehmen. Und was rät er uns, der Gesellschaft, die nicht so nah dran ist, wenn es ums Verstehen der andern geht? Langes Nachdenken wiederum. Dann kommt es ganz klar: Alle müssen sich klar werden, dass wir jede Menge Clichés in den Köpfen haben, die einfach nicht der ganzen Realität entsprechen. Ein Beispiel: Musliminnen. Viele haben Bilder im Kopf von ungebildeten oder unterdrückten Frauen, und sehen oft nicht, dass viele junge Migrantinnen heute bei uns Zahnärztinnen, Juristinnen, Lehrerinnen sind, und sich masslos ärgern über derartige Clichés.

Neue Herausforderungen

Und nun also geht der Mann mit dem grossen Rucksack, den tausend Erfahrungen, der angeborenen Offenheit und der ruhigen Entschlossenheit zum Kanton, auf ein Amt. Dieses Amt hat zwar mit dem neuen Landeskirchengesetz einen andere (erweiterte) Bezeichnung und andere Aufgaben erhalten, aber es ist eben doch ein Verwaltungsjob, der da auf Leutwyler wartet. Und er hat mit seinem Entschluss, ihn anzunehmen, für einige Verwunderung gesorgt. Wohl wie damals, als er beschloss Theologie zu studieren. Leutwyler trägt es mit Fassung. Er werde sicher keine ruhige Kugel schieben beim Kanton, das sei gar nicht seine Art und wäre an dieser Stelle wohl auch nicht möglich. Aber vielleicht werde er etwas fokussierter arbeiten können. Seine Familie werde dies bestimmt zu spüren bekommen, sagt er und man merkt, dass sein Riesenengagement im Haus der Religionen oft auch eine Herausforderung für den dreifachen Familienvater war.

Wo sieht er die Schwerpunkte in seinem neuen Job? Wo will er seine Erfahrungen einbringen? Leutwyler sagt es so: «Es geht ums Grundsätzliche: der Staat muss sich Gedanken machen, wo er Aufgaben auf dem Gebiet der Religionen hat. Er muss sich darum kümmern, wie die Leute zusammenleben, was Menschen eint und was sie trennt.» Gleichzeitig müsse der Staat anerkennen, was die Landeskirchen bisher auf den unterschiedlichsten Gebieten geleistet haben. Man könne jetzt nicht einfach sagen, die Kirchen müssen selber schauen, wie sie zu ihren Finanzen kommen. Im Bereich Sozialarbeit, Integration, Altersarbeit, Gefangenenbetreuung, gesellschaftlicher Zusammenhalt haben die Landeskirchen wichtige Arbeit geleistet, die nicht so einfach zu verstaatlichen ist.

Wer was zu welchen Bedingungen machen werde in Zukunft, das sei eine grosse Frage für den Staat. Und da helfe er gerne mitdiskutieren und nach Lösungen suchen. Ein grosses Anliegen ist ihm die Anerkennung und Abgeltung der Arbeit der nicht-christlichen Religionen. «All diese Menschen sind gleichberechtigte Staatsbürger. In der Praxis sind sie es aber nicht.» Als Beispiel nennt er den Hindutempel im Haus der Religionen. Die Hindus, die eine viel kleinere Gemeinde sind als die Christen, müssen eine ungleich grössere Summe ohne Steuergelder vom Staat aufbringen, um ihr Gemeindeleben zu finanzieren: «Da sind wir noch sehr weit weg von Gleichberechtigung.»

Die Nachfolge

Zurück zum Haus, das er nun verlassen will. Was muss sein Nachfolger, seine Nachfolgerin mitbringen? Leutwyler, der Fussballfan, der sein Team auf allen Positionen verstärkt hat, glaubt, dass er weder Stürmer noch Verteidiger und schon gar nicht Torhüter war, sondern vor allem Mannschaftstrainer. Und das wünscht er sich auch für die Zukunft? «Auf diesem Posten erträgt es keine Diva. Niemand, der einfach befiehlt, sondern jemanden, der zuhören, koordinieren und Raum geben kann. Das Team kann sehr viel sehr gut selber machen. Es braucht bloss einen, der das Team zusammenhält.»