Ein Ort, der Identifikation erlaubt

von Bernhard Giger 22. Oktober 2018

In die Mitte der Stadt wurde das Kornhaus im frühen 18. Jahrhundert gebaut, kein Wohnhaus und kein herrschaftliches Gebäude, sondern ein Lagerhaus. Nicht nur sein Standort, auch seine Funktion war zentral. Das ist bis heute so geblieben. In einer Galerie-Ausstellung dokumentiert das Kornhausforum die 300-jährige Geschichte des Hauses. Bis 3. November 2018.

In Ostermundigen entsteht der BäreTower, das höchste Gebäude im Kanton Bern. Das frühere Swisscom-Hochhaus, lange Zeit ein Wahrzeichen an der Gemeindegrenze, wird dagegen nichtig erscheinen. Ein neues Zentrum, so heisst es, werde Ostermundigen mit dem Neubau bekommen. Und sehen können wie ein in die Landschaft gestreckter Finger wird man den Turm über die halbe Agglomeration. Ein einziger Bau, so viel Veränderung.

Ein repräsentativer Stadtbau

Wie muss das erst gewesen sein, damals, vor 300 Jahren, als das Kornhaus gebaut wurde. 57 Meter lang und 20 Meter breit, unter dem Boden ein hohes Kellergewölbe und über einer offenen, von Pfeilern getragenen Halle vier Kornböden. Die Halle wurde für fast 200 Jahre zum Marktplatz. Ausser dem Münster – schwer vorstellbar für uns Heutige –  haben die Bernerinnen und Berner vorher noch kaum ein so grosses Gebäude gesehen. Das Kornhaus, 1711 bis 1718 gebaut, war damals der BärnTower.

Notsituationen führten Ende des 15. Jahrhunderts zum Aufbau der staatlichen Kornverwaltung und zur Einrichtung von Kornlagern. Wie über 20 andere Kornhäuser in Stadt und Land war das Berner Kornhaus der «Kornkammer» unterstellt, der obrigkeitlichen Behörde für die Vorratshaltung. Gefüllt mit Abgaben aus Zins und Zehnten, erfüllten die Kornhäuser drei Aufgaben: Sie dienten der Vorsorge für Krieg und Hungersnot, sie waren ein wirksames – und durchaus einträgliches – Instrument zur Regulierung des Brotpreises, und sie wurden zur Beamtenbesoldung verwendet.

Der Ort des Kunsthandwerks

Die Bedeutung, welche die Bauherren dem «Grossen Kornhaus» zukommen liessen, zeigt sich allein in der Wahl des Standorts. Im Zentrum der Stadt liessen sie es bauen. Zentral war und blieb, trotz unterschiedlicher Nutzung, auch seine Funktion: Zuerst Kornlager und Weinkeller, im 19. Jahrhundert Materialdepot und einmal, im Dezember 1849, Unterschlupf für 250 Flüchtlinge des Hanauer Turneraufstands. Im Keller eine Weinschenke mit eher zweifelhaftem Ruf.

Dann, ab dem späten 19. Jahrhundert und für fast 100 Jahre, Kantonales Gewerbemuseum. Ein Ort – der Ort im Kanton Bern – des Handwerks, des Kunsthandwerks, der angewandten Kunst. Die Fachbibliothek, die dem Museum angegliedert war, wird noch heute von den Kornhausbibliotheken geführt. Im Gewerbemuseum waren jeweils die Arbeiten des Eidgenössischen Stipendiums für angewandte Kunst zu sehen, lange Zeit der wichtigste Förderpreis für junges Kunsthandwerk. Das Kornhaus war, was heute Design-Zentrum heisst. Die Tradition hat sich erhalten, Design gehört zu den thematischen Schwerpunkten des Kornhausforums, die im Leistungsvertrag mit den Subventionsgebern festgeschrieben sind.

Mit dem Gewerbemuseum kam in den 1890er-Jahren auch der Umbau des Hauses, der ganz auf die veränderte Nutzung ausgerichtet war: Zentraler Ort wurde ein zweigeschossiger, durch eine Eisenkonstruktion gestützter Ausstellungssaal. Um im Saal bessere Lichtverhältnisse zu schaffen, erweiterte man die schmalen Öffnungen, die früher der Belüftung dienten, zu grossen Fenstern. Das breite Treppenhaus entstand und die Halle im Erdgeschoss – die grösste, nie mehr korrigierte Bausünde – wurde mit Post- und Ladenlokalen zugestellt.

Nach dem Haus wurde auch der Keller umgebaut. Die aufstrebende, schnell wachsende Stadt brauchte ein zentrales Festlokal, so entstand die Grande Cave. Mit dem Einbau einer Galerie wurde mehr Raum für die Gastwirtschaft geschaffen. Der Keller wurde von Rudolf Münger ausgemalt, am Kornhausplatz entstand ein neuer Zugang.

Ein offenes Haus

Der Umbau von 1895-98 wurde im 20. Jahrhundert korrigiert. In den 1970er-Jahren versetzten die Architekten Hans Haltmeyer und Ulrich Stucky die Fassade in ihren ursprünglichen Bauzustand zurück. In den 1990er-Jahren, quasi als Aufbruch ins neue Jahrhundert, folgten die umfassende Sanierung und Erneuerung und ein neues Nutzungskonzept – der Beginn dessen, was das Kornhaus heute im öffentlichen Leben von Stadt und Region darstellt.

Die Idee, das Kornhaus zum offenen Begegnungsort zu machen, wurde in den 1960er-Jahren von einer Gruppe von Architekten und Planern um den Kunsthistoriker Paul Hofer erstmals zur Diskussion gestellt. Sie wollten das ganze Predigerareal umgestalten, Stadttheater und Verwaltungsgebäude durch Neubauten ersetzen, Kirche und Kornhaus öffnen und damit einen neuen städtischen Gemeinschaftsraum schaffen. Das war für Bern zu visionär.

Das Kornhaus jedoch blieb im Gespräch. Was daraus werde könnte, darüber gingen die Meinungen zunächst auseinander. Die einen wollten Büros und Gewerbe dort unterbringen, vielleicht sogar ein Warenhaus, die andern, die Weitsichtigen, haben den Faden weitergesponnen, den die Gruppe um Paul Hofer aufgenommen hatte. 1987, im gleichen Jahr, als die Reitschule mit einer Besetzung und einem Kulturstreik wiedereröffnet wurde, entstand das erste Konzept für den Neuanfang, das Nutzungskonzept Kornhaus 87.

Ein offenes Haus, das für breite Bevölkerungskreise gesellschaftliche und kulturelle Anliegen thematisiert, ein zentraler Ort der Stadtgemeinde, «der Identifikation erlaubt», so lauteten die im Konzept formulierten Ziele. Damit war der Prozess der Erneuerung eröffnet und das vom Nutzungskonzept skizzierte multifunktionale Begegnungszentrum begann sich allmählich zu konkretisieren.

Kein zentraler Durchgang

1996 wurden in einer Volksabstimmung ein 15-Millionen-Franken-Umbaukredit und ein neues Nutzungskonzept angenommen. Der Neustart im Kornhaus erfolgte in enger Zusammenarbeit zwischen städtischen Stellen – dem Hochbauamt, der Liegenschaftsverwaltung, der Denkmalpflege und der Abteilung Kulturelles – mit den Architekten, dem Büro sam Architekten und Planer AG, Zürich. Der grösste Eingriff erfolgte im Stadtsaal, dessen durch Verkleidungen verdeckte Eisenkonstruktion freigelegt und dessen Decke instand gestellt wurden. Neu entstand ein Galeriegeschoss, das heute sowohl von der Kornhausbibliothek als auch vom Kornhausforum genutzt wird. Im Erdgeschoss wurden die Ladenlokale durch ein Café und Dienstleistungsräume ersetzt, in denen sich die Kreuzbogengewölbe der einstigen Markthalle fortsetzen. Unverwirklicht blieben die im Konzept vorgesehene, völlige Verglasung aller Nutzräume im Erdgeschoss und ein zentraler Durchgang durch das heutige Café ins Treppenhaus.

Einige Dramatik verursachten die Umbaupläne des Kornhauskellers. Die neue Pächterin wollte die Galerien abbrechen, die Malereien entfernen, die Täferung herausreissen und den ganzen Raum in einem «hellen Ton» streichen lassen. Die städtische Denkmalpflege stellte sich dem mit Vehemenz entgegen. Die Finanzdirektion – angesichts roter Budgetzahlen bereit, dem Pächter weit entgegenzukommen – verlangte einen Beschluss des Gemeinderats. Die Kantonale Denkmalpflege und das Bundesamt für Kultur stützten die städtische Fachstelle. Der Keller wurde saniert, die Fresken von Rudolf Münger gereinigt und restauriert.

Offen und niederschwellig

Eine mehrheitlich kulturelle Nutzung sah das von Berns Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern gutgeheissene Konzept vor. Das «neue», 1998 eröffnete Kornhaus erfüllte die Auflage von unten bis oben: Im Erdgeschoss befand sich neben dem Café die Vorverkaufskasse des Theaters, im ersten und zweiten Obergeschoss nahm, am 31. Oktober 1998, das Forum für Medien und Gestaltung seinen Betrieb auf, das heutige Kornhausforum, ebenfalls ins zweite und ins dritte Geschoss war die Regionalbibliothek eingezogen, und im Dachstock befand sich die Probebühne des Stadttheaters, die danach – bis Vidmar kam – zur Kammerbühne wurde.

Das Haus ist geworden, was die Konzepte forderten. Dafür stehen heute, 20 Jahre später, Kornhausbibliothek und Kornhausforum. Offen, niederschwellig, vielseitig im Angebot, breit genutzt – das ist das Kornhaus heute, eines der vermutlich am meisten genutzten öffentlichen Häuser der Stadt. Bern hat einiges riskiert vor 20 Jahren mit dem Neuanfang im Kornhaus – aber Bern hat auch einiges zurückbekommen dafür.