Ein offener Geist, ein feiner Mensch

von Christoph Reichenau 14. Februar 2022

Beat Sitter-Liver war ein freundlicher Mensch. Freundlich nicht im Sinne von harmlos oder unverbindlich. Seine Freundlichkeit war anteilnehmend, interessiert, warmherzig. In einem langen Studium in Bern, Reykjavik und Köln befasste er sich mit einem breiten Fächer an Themen, in deren Zentrum die praktische Philosophie stand. Er war Gymnasiallehrer im Kirchenfeld und Uni-Assistent – ein guter Vermittler, etwa wenn er Heideggers «Sein und Zeit» mit philosophischen Laien durchnahm, und später im Fachkreis an der Universität.

Mit 33 Jahren fand Beat Sitter-Liver sein berufliches Arbeitsfeld, in dem er während 30 Jahren bis zur Pensionierung grosses leistete: Er wurde Generalsekretär der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, einige Jahre auch der Akademie der Naturwissenschaften. Die Tätigkeit war auf ihn zugeschnitten. Er machte daraus das bedeutende wissenschaftspolitische Gebilde der Akademien, das wir heute kennen, und das trotz enormem Engagement von Sitter-Liver und grosser Entwicklung fragil geblieben ist und leider nicht die Bedeutung hat, die ihm gebührt.

Beat Sitter-Liver konnte dank sanfter, doch stringenter Argumentation vieles bewegen in jener Zeit, da der Wissenschaftsrat gebildet wurde, der Nationalfonds erstarkte und aufgrund einer neuen Verfassungsbestimmung erste Strategien der Forschungsförderung entstanden. Dabei halfen ihm seine Freundlichkeit, seine profunden Kenntnisse, seine Beharrlichkeit, aber auch seine Begeisterungsfähigkeit für manche Fragen und Themen. Zu diesen Themen gehörten die Gerechtigkeit in allen Bereichen und Formen. Als 1971 die «Theory of Justice» des amerikanischen Philosophen John Rawls erschien, war Beat Sitter-Liver in der Schweiz einer der Ersten, die deren Grundgedanken aufnahmen: Gesellschaftlich gerechte Lösungen sind nur möglich, wenn sie vor dem Vorhang des Nichtwissens erstritten werden, des Nichtkennens der Position, die man selber später in der Gesellschaft einnehmen wird. Früh und intensiv nahm sich Beat Sitter-Liver auch der Frage an, ob Tiere und Pflanzen Rechte haben oder haben müssten und wie solche geltend gemacht werden könnten.

Zu seiner Freundlichkeit gehörte, dass er sich ehrlich über Erfolge anderer freuen konnte und dadurch viele förderte. Dazu hatte er ab 1990 auch an der Universität Freiburg Gelegenheit, wo er Titularprofessor für praktische Philosophie war.

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Beat Sitter-Livers breites Kulturverständnis, seine Befassung mit Kunst, Literatur, mit Architektur, Siedlungsplanung, mit Geschlechterpolitik und vielem mehr halfen ihm, die Bedeutung der Geisteswissenschaften für uns heute und unsere Zukunft überzeugend darzulegen und als gleichwertig mit den Natur-, den Technik-, den medizinischen Wissenschaften zu vertreten. Was heute als «Orchideenfach» belächelt und in seiner gesellschaftlichen Bedeutung in Frage gestellt werden mag, kann sich unversehens morgen als unverzichtbar erweisen (wie die Beispiele der Sinologie oder der Islamwissenschaft zeigen). Beat wusste um die Notwendigkeit aller Fächer.

«Der Einspruch der Geisteswissenschaften» hiess deshalb der Band mit gesammelten Schriften, der 2002 zur Pensionierung Beat Sitter-Livers erschien und der als Summe seiner Erkenntnis zusammenfasste, der Mensch möge aufhören, die Natur unterzuordnen und konsumieren zu wollen.

Auch nach der Pensionierung blieb Beat Sitter-Liver wissenschaftlich, vermittelnd, schreibend in Bewegung, national und international.

Beat Sitter-Liver war verheiratet und tief verbunden mit der Künstlerin Beatrix Sitter-Liver; sie haben eine Tochter und einen Sohn sowie drei Enkelkinder. In den letzten Jahren liess Beats Gedächtnis nach, die Erinnerung schrumpfte und verblasste. Zu Hause im Altenberg zu leben, wurde unmöglich. Die einst so grosse Welt verengte sich auf die Bewältigung jedes Tages. Am 31. Januar ist Beat Sitter-Liver 83-jährig gestorben, ein feiner Mensch.