Als Remigio vor 51 Jahren in die Schweiz kam, wusste er noch wenig über das Land, das auch heute wieder sein Zuhause ist. Sein Weg führte von der Schweiz fast nach Südamerika, dann nach Sardinien und wieder zurück in die Schweiz. Remigio stammt aus dem Süden Italiens, aus der Provinz Caserta in der Nähe von Neapel. Als Zweitjüngster von 13 Geschwistern wuchs Remigio in bescheidenen Verhältnissen auf. Mit 12 Jahren musste Remigio auf die Baustelle um als Maurer zu arbeiten. Diese Zeit empfand Remigio als «sehr frustrierend und demütigend», wie er heute sagt. Denn auch er wollte, wie die anderen Kinder auch, zur Schule gehen und neue Sachen lernen. 4 Jahre später, mit 16 Jahren, schickte ihn sein Vater in die Schweiz, zu seinem älteren Bruder nach Thun, dieser hatte ihm einen Job als Tellerwäscher organisiert. Für die Reise hatte ihm der Vater ein Poulet in vier Portionen aufgeteilt, für jeden Abschnitt der Zugreise ein Stück. Remigio erzählt noch heute, mit leuchtenden Augen, wie er das Poulet genüsslich aufs Mal verschlang, denn es war das erste Mal in seinem Leben, dass er ein ganzes Poulet für sich alleine hatte.
Die Anfänge in Thun
In der Schweiz angekommen war der kulturelle Schock anfangs natürlich riesig. Am ersten Tag gab es «Suurchabis» und dem jungen Remigio kamen die Tränen. Morgens musste er in Thun immer den Schnee vor dem Restaurant wegschaufeln, dies mit Kleidern, welche eher den Temperaturen Süditaliens entsprachen als jenen der Schweiz. «In diesem Jahr hat es fast bis in den Mai hinein geschneit», erzählt Remigio lachend. In der Freizeit war er meist mit anderen Italienern unterwegs, hauptsächlich wegen der Sprache. Es gab wenig Kontakt zwischen Schweizern und Italienern zu dieser Zeit. Remigio kam legal in die Schweiz. Viele kamen jedoch als Touristen und blieben dann. Sie lebten und arbeiteten illegal in der Schweiz und mussten sich verstecken. So auch eine Cousine von ihm, welche ihre zwei Kinder verstecken musste um nicht plötzlich nach Italien ausgewiesen zu werden, erinnert sich Remigio: «Dies zu sehen hat mich traurig gemacht.» Diese Erfahrungen prägten ihn und auch deshalb begann er, sich politisch gegen das Saisonnierstatut und für die Rechte der italienischen Arbeiter zu engagieren.
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Diskriminierung und Baracke in Schüpfen
Nach 2 Jahren als Tellerwäscher in Thun begann er in einer Schreinerei in Schüpfen zu arbeiten. Dort erlebte Remigio zum ersten Mal Diskriminierung gegenüber Italienern. Die Familie seiner damaligen Schweizer Freundin, welche mittlerweile seine Exfrau ist, wurde im Dorf nicht mehr gegrüsst, denn sie ging mit einem Italiener aus. Einmal habe er ein Schild vor einem Restaurant gesehen, welches auf Deutsch und Italienisch sagte: Kein Zutritt für Hunde und Italiener. Noch heute werde er wütend wenn er daran denke. Jedoch äussert sich Remigio zu einem gewissen Teil auch verständnisvoll. Die Schweizer seien nicht per se Rassisten gewesen. Man müsse auch sehen, dass die Einwanderer eine Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt gewesen seien, welche bereit waren, zu einem geringeren Lohn zu arbeiten. Diese Problematik besteht noch heute. Remigio betont, es sei ein Widerspruch, dass nun genau die ehemaligen Italienischen Einwanderer keine neuen Einwanderer reinlassen wollten, obwohl sie sich doch in ihre Situation hineinversetzen können sollten.
In Schüpfen lebte er in einer Baracke mit fünf anderen italienischen Arbeitern. Diese Zeit empfand er nicht negativ, sondern als lehrreiche Erfahrung. An sehr einfache Verhältnisse gewöhnt, war es für den jungen Remigio ein Vorteil, nicht alleine zu leben, denn er «war noch nicht ausgereift», wie er sagt. Es wurde zusammen gekocht und abgewaschen, Remigio knüpfte neue Kontakte, die sich für seine Zukunft als entscheidend herausstellten sollten. Dort erfuhr er von der CISAP (heute ECAP), welche Abendkurse auf Italienisch anbot. So konnte er seine Grundschulbildung nachholen und fand eine Lehrstelle als Dreher bei der WIFAG. Diese Solidarität, zwischen den Auswanderern, dieses einander helfen, sehe er heute weniger.
Blick nach Südamerika
Bei der WIFAG eröffnete sich für Remigio eine neue Welt. Zu dieser Zeit arbeiteten viele Leute aus Südamerika dort, welche von den Militärdiktaturen in ihren Heimatländern geflüchtet waren. Dort wurde Remigio politisch aktiv und emanzipierte sich ein Stück von Italien. Die Welt wurde grösser als Italien und die Schweiz und Remigio engagierte sich mit seinen damaligen Arbeitskollegen stark für Südamerika, indem er Solidaritätskomitees beitrat und 1984 die Brigada Latino Bernesa mitgründete, welche bis heute aktiv ist. Es zeichnete sich eine Zukunft in Südamerika ab, inzwischen hatte er Spanisch gelernt und 1992 bot ihm das Schweizerische Arbeiterhilfswerk eine Stelle bei einem Entwicklungsprojekt in Nicaragua an, welches jedoch in letzter Sekunde finanziell nicht zustande kam.
Neustart in Sardinien
Geprägt von dieser Enttäuschung wagten die Funiciellos einen Neuanfang in Sardinien. Dort erfand sich Remigio nochmals neu und eröffnete sein eigenes Schuhmachergeschäft. Dort zeigten sich bereits erste Eigenschaften, die Remigio aus der Schweiz mitgenommen hatte, wie er berichtet. Er war weit und breit der einzige, der sein Geschäft bereits um 8 Uhr öffnete und auch das Wort «dringend» bekam eine andere Bedeutung als in der Schweiz. «Dringend bedeutet in der Schweiz am nächsten Tag, auf Sardinien zwei Wochen.» Remigio Funiciello lebte zufrieden in Sardinien, bemerkte jedoch, dass seine Kinder in eine ähnliche Situation wie er hineingeraten würden. Natürlich war genug Geld zum Essen da, aber eine höhere Bildung hätte er seinen Kindern nicht bieten können und auch die Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt waren in der Schweiz besser. Deshalb beschloss er, wieder in die Schweiz zurückzukehren. Glücklicherweise konnte Remigio seine Stelle bei der WIFAG wieder übernehmen.
Bei der Frage, ob sich Remigio mehr als Schweizer oder mehr als Italiener fühlt, muss er lange überlegen. Er hat sicher einige Schweizer Eigenschaften wie die Organisation, die Seriosität und die Pünktlichkeit übernommen. Von Italien schätzt er die Leichtigkeit und die Spontanität, ja auch die Improvisationsgabe. Es ist eine Mischung aus beidem, welches ihn heute auszeichnet und er kann und will sich nicht entscheiden und ist auch stolz darauf.
Noch heute aktiv
Jetzt ist Remigio glücklich pensioniert wie er sagt. Heute kümmert er sich um den Breitsch- Träff. Als diesem die Schliessung drohte, engagierte sich Remigio dafür blieb bis heute in dem Quartiertreffpunkt aktiv. Remigio scheint seinen Platz gefunden zu haben und fühlt sich erfüllt. Vor einigen Jahren gründete er mit anderen das Komitee «Pecore Rebelli» (Rebellische Schafe). Mit ihnen organisierte er kulturelle Veranstaltungen, Filmabende, Buchbesprechungen und vieles mehr. Bei den Treffen wird gegessen und italienische Landwirtschaftsprodukte von «Libera Terra» angeboten. «Libera terra» vereint verschiedene Sozialgenossenschaften, welche biologische Produkte produzieren. Diese werden auf dem Land hergestellt, welches der Italienische Staat der Mafia beschlagnahmt hat. Aktivist bleibt man ein Leben lang, wie es scheint. Remigio Funiciello sagt, er fühle sich gut integriert in der Schweiz, wenn auch nicht sprachlich, jedoch politisch und kulturell, denn er trägt aktiv zum kulturellen Leben in Bern teil. Er betont immer wieder, in die Schweiz zu kommen, sei für ihn eine Befreiung gewesen. Eine Befreiung aus der Armut, aber auch eine geistige Befreiung und Öffnung, welche ihm neue Horizonte aufzeigte.