Ein Leben in der Schwebe

von Janine Schneider 4. April 2024

Integration Viele geflüchtete Ukrainer*innen leben nun seit zwei Jahren in Bern. Je länger der Krieg dauert, desto mehr wird klar: Sie brauchen eine langfristige Perspektive in der Bundesstadt. Das ist allerdings nicht ganz einfach.

An der Wand hängt ihr Hochzeitsfoto. Ein festlich gekleidetes Brautpaar strahlt der Betrachterin aus einem anderen Land und einer anderen Zeit entgegen. Es ist eines der wenigen persönlichen Bilder im kleinen Studio, in dem Oksana und Igor Vladimirov seit zwei Jahren wohnen – seit sie vor dem russischen Angriffskrieg aus der Ukraine fliehen mussten. Das Studio befindet sich mitten in der ruhigen Baumgartensiedlung, hübsche moderne Blöcke mit viel Sichtbeton und bunten Fähnchen, Fahrradständer und Kiesgärten vor den ebenerdigen Wohnungen. Eine heile Welt im Osten Berns.

«Unsere frühere Wohnung in Mariupol ist zerstört», erzählt Oksana Vladimirova und setzt sich an den langen Tisch in der Mitte des aufgeräumten Studios. Ihr Mann kommt aus Mariupol, sie aus Kyjiw, gelebt haben sie in beiden Städten. Während die 46-jährige Ukrainerin als Juristin und Mediatorin arbeitete, hatte Igor eine Stelle als Zahntechniker inne.

Beide können in Bern nicht mehr auf ihren früheren Berufen arbeiten. Oksana, weil ihr Diplom nicht anerkannt ist. Igor, dessen Diplom europaweit anerkannt wäre, weil ihm das dafür nötige Sprachniveau fehlt. Dennoch scheinen sie sich deswegen nicht ihren Optimismus nehmen zu lassen. «Unser Leben ist nicht einfach», so Oksana Vladimirova, «Aber wir versuchen das Beste daraus zu machen.»

Oksana Vladimirova in ihrer Wohnung in der Baumgartensiedlung. (Foto: Janine Schneider)

Oksana und Igor Vladimirova sind zwei von 1‘742 geflüchteten Ukrainer*innen, die zurzeit in der Stadt Bern leben. «Nach wie vor sind ukrainische neben afghanischen Geflüchteten die grösste Gruppe, die in die Schweiz einreist», erklärt Claudia Hänzi, Leiterin der Asylsozialdienste im Perimeter Bern, der auch Gemeinden wie Köniz oder Bremgarten umfasst, «Allerdings reisen auch immer wieder Menschen in die Ukraine zurück.» Deshalb würden die Zahlen insgesamt stagnieren.

Diese Perspektivlosigkeit tut niemandem gut.

In der Stadt Bern lebt ein Grossteil der Ukrainer*innen mittlerweile wie Oksana und Igor in eigenen Wohnungen. Etwa 600 sind weiterhin in Kollektivunterkünften, wie der Containersiedlung im Viererfeld untergebracht, und weitere 140 Personen wohnen noch immer bei Privatfamilien. Ungeachtet der Unterbringung ist für viele ihre Situation zwei Jahre nach Beginn des Krieges immer noch ungewiss: Wie lange bleiben sie in Bern? Können sie hier eine Stelle finden? Und haben sie hier überhaupt eine Zukunft? Ein Leben in der Schwebe, das nicht einfach sei, wie Claudia Hänzi betont: «Diese Perspektivlosigkeit tut niemandem gut.»

Schwierigkeiten bei der Stellensuche

Anfangs dachten viele, dass der Krieg nur wenige Monate andauern und sie danach wieder in die Ukraine zurückkehren könnten. Darauf war auch der Schutzstatus S ausgerichtet, der erstmalig für die aus der Ukraine Geflüchteten vom Bund in Kraft gesetzt wurde. «Aus diesem Grund stand die Integration nicht im Vordergrund», erklärt Claudia Hänzi.

Sprachkurse wurden zwar angeboten und der Zugang zu ihnen vereinfacht. Integrationsmassnahmen für den beruflichen Bereich wurden jedoch von Bund und Kantonen vorerst nicht angestossen. «Erst seit Kurzem kommt nun mehr Bewegung in die Integrationsarbeit.» Die berufliche Integration soll nun stärker gefördert werden.

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Tatsache ist: Nur ein knappes Drittel der Ukrainer*innen hat in Bern bislang Arbeit gefunden. Und das, obwohl viele gute Qualifikationen mitbringen. Grund dafür ist nicht nur die fehlende Integrationsförderung. Weitere Gründe spielen hinein: Kinder, die es zu betreuen gibt und für die kein vergleichbares Krippennetz wie in der Ukraine bereitsteht, gesundheitliche Einschränkungen und ebenso die allgemeine Ungewissheit, was die Zukunft bringt. Bern ist damit nicht die Ausnahme. Zum Vergleich: In Deutschland haben bislang auch nur 23 Prozent der Kriegsflüchtlinge einen Arbeitsplatz gefunden. In anderen Ländern wie Polen dagegen sind es 65 Prozent.

Nur ein knappes Drittel der Ukrainer*innen hat in Bern bislang Arbeit gefunden.

«Dabei gäbe es genug Arbeit in der Schweiz!», findet Olena Krylova und öffnet die Tür zur ukrainischen Schule im vierten Stock der Marktgasse 32. Die Luft ist trocken, durch die Fenster blickt man auf die Hinterhöfe und Dachterrassen der oberen Altstadt. In einem Regal stehen gelbe und blaue Ordner und Kinderspielzeug. An der Wand hängt ein Schild «Zum Camping» und ein ukrainisches Fähnchen. Auf dem Tisch steht ein rotes Glöckchen mit Schweizerkreuz.

Olena Krylova ist eine der Gründerinnen der Ukrainischen Schule Bern. Auf der Krim aufgewachsen, hat die 50-Jährige schon 1999 die ukrainische Halbinsel verlassen, um weltweit als Beraterin für Entwicklungs- und Integrationsprojekte zu arbeiten. In Bern lebt sie seit 25 Jahren.

Versucht eine Brücke zwischen zwei Bildungssystemen zu schaffen: Die Ukrainische Schule Bern. (Foto: Janine Schneider)

Als im März 2022 eine grosse Welle ukrainischer Flüchtlinge die Bundesstadt erreichte, wurde ihr schnell klar, dass dringend Unterstützungsangebote geschaffen werden mussten. Mit der Unterstützung von Zonta Bern gründete sie die «Ukrainische Schule», die erst einmal Kurse und Unterstützung für Kinder auf Primarstufe anbot. Ein halbes Jahr später gründete sie den Verein Ukraine Schweiz Bern, kurz USB.

Mit der Zeit kamen mehr Projekte hinzu: Ukrainisch-Unterricht für Jugendliche, psychologische Hilfe in Form von Gruppen- oder Einzeltherapie oder ganz neu: «How to Bärn» – ein gemeinsames Projekt in Zusammenarbeit mit dem Jugendrotkreuz, in dem Berner und ukrainische Jugendliche gemeinsam typische Berner Aktivitäten unternehmen. Und eben eine neue Initiative – Hilfe bei der Arbeitssuche.

Jeweils samstags werden Jugendliche in der Marktgasse 32 in ukrainischer Sprache und Kultur unterrichtet. (Foto: Janine Schneider)

Freiwilliges Engagement

«Das Problem ist, dass viele Ukrainer überqualifiziert sind», erklärt Krylova. Sie würden gerne weiterhin als Lehrer, Ärztin oder Juristin arbeiten. «Aber ihre Diplome sind in der Schweiz oftmals nicht anerkannt.» Hinzu komme die Sprachbarriere. Für viele Berufe ist mindestens ein B2-Niveau, wenn nicht sogar ein C1 oder C2 nötig.

Viele Geflüchtete hatten in den letzten zwei Jahren zwar Sprachkurse besucht, da sie aber darauf hofften, bald in die Ukraine zurückkehren zu können, hatte Deutsch für sie nicht erste Priorität. «Und jetzt erkennen viele, dass sie wohl längerfristig in der Schweiz bleiben müssen», so Krylova.

Trotz vergleichsweise hohen Qualifikationen arbeitet deshalb der Grossteil der arbeitstätigen Ukrainer*innen im Niedriglohnbereich. Das zeigt eine im Sommer 2023 publizierte Studie des Mixed Migrations Centre, die 603 Ukrainer*innen aus dem Kanton Bern zu verschiedenen Aspekten ihres Lebens hier befragte. 50 Prozent der Frauen arbeitete zu diesem Zeitpunkt als Putzkraft oder in der Gastronomie. Zum Vergleich: In der Ukraine arbeiteten nur 5 Prozent der Frauen in diesen Sektoren.

Jetzt erkennen viele, dass sie wohl längerfristig in der Schweiz bleiben müssen.

Was die Ukrainer*innen brauchen würden, sei Vermittlung, Coaching und Ermutigung, erklärt denn auch Svitlana Vesta, die ebenfalls für die Ukrainische Schule Bern arbeitet und sich als ausgebildete Psychotherapeutin nicht nur mit der Behandlung von Traumata beschäftigt, sondern ihre ukrainischen Klient*innen auch bei der Suche nach Arbeit unterstützt.

«Viele Ukrainerinnen haben Hemmungen, persönlich bei Arbeitgebern oder auch Bekannten nach einer Stelle zu fragen.» Dabei seien es oft diese persönlichen Kontakte, die weiterhelfen würden. Auch für viele Jugendliche stellt sich die Frage, wie sie eine Lehrstelle erhalten oder eine höhere Schulbildung erlangen können. Da gelte es, ganz grundlegende Informationen zu vermitteln: Wo kann ich schnuppern gehen? Wie finde ich eine Lehrstelle?

Mit ihrem grösstenteils durch ehrenamtliches Engagement ermöglichten Kursangebot leistet ein Projekt wie die «USB» somit eigentlich die Arbeit, die normalerweise von den Asylsozialdiensten übernommen würde. Damit nicht nur die in Bern wohnhaften Ukrainer*innen davon profitieren, unterstützt die «USB» nun auch Gruppen in Burgdorf, Spiez, Thun und Grindelwald. Denn wie Olena Krylova betont: «Wer in Bern wohnt, hat genügend Angebote. Schwieriger ist es für die, die ausserhalb der grossen Städte leben.»

Planbare Zukunft?

Aber nicht alle leben in der Schwebe. Manche wie Oksana Vladimirova haben sich in der neuen Lebenssituation gut eingerichtet. Dass sich ihr Leben mit der Flucht verändern würde, sei klar gewesen, erklärt sie, nun gelte es, sich neuen Beschäftigungen zu widmen. Lächelnd deutet sie zum hellblauen Kühlschrank hinüber, an dem auf mehreren Notizzetteln ihre unzähligen wöchentlichen Termine notiert sind. «Etwas zu tun zu haben, beruhigt mich», erklärt die Ukrainerin.

Neben ihrem ehrenamtlichen Engagement in verschiedenen Hilfsvereinigungen für Ukrainer*innen arbeitet sie als Klassenassistenz in der Integrationsklasse im Viererfeld, ist aktiv im Flüchtlingsparlament, besucht viermal die Woche Deutschkurse auf B2-Niveau und hat nun auch noch im Fernstudium an der Universität Kyijw angefangen, Psychologie zu studieren.

Ich muss mir über jene Pläne Gedanken machen, die ich beeinflussen kann.

Ausserdem arbeitet sie weiterhin als Mediatorin für geflüchtete Ukrainer*innen und begleitet diese auch bei ihrer Suche nach Arbeit. «Ich wollte mich nützlich machen», sagt sie, «Mein Ziel ist es, Ukrainern zu helfen, sich möglichst stressfrei in der Schweiz zu integrieren.»

Oksana Vladimirova arbeitet weiterhin als Mediatorin und unterstützt Ukrainer*innen, die Mühe haben, Arbeit zu finden. (Foto: Janine Schneider)

Oksana Vladimirova möchte den ukrainischen Geflüchteten dabei helfen, ihr Leben in Bern in die Hand zu nehmen. Doch sehen diese ihre Zukunft überhaupt in der Bundesstadt? Die Studie des Mixed Migration Centre befragte die Studiengruppe ebenfalls zum Wunsch einer zukünftigen Rückkehr in die Ukraine.

Ein Drittel gab an, permanent bleiben, ein Drittel, in die Ukraine zurückkehren zu wollen. Ein weiterer Drittel wusste es noch nicht. Fragt man Oksana Vladimirova nach einer möglichen Rückkehr in ihr Heimatland, wird die Stimme der ansonsten fröhlichen Ukrainerin sehr ernst: «Ich muss mir über jene Pläne Gedanken machen, die ich beeinflussen kann. Dieses Thema ist für mich im Moment abgeschlossen.»